Zwar üben sowohl die Bundesregierung als auch die EU-Kommission extreme Zurückhaltung hinsichtlich möglicher Folgen. Sie setzen auf einen Verbleib der Briten in der EU. Der britische Europaminister David Lidington war vor wenigen Tagen aber weniger zurückhaltend. "Es wäre sehr schwierig, die Verhandlungen innerhalb von zehn Jahren abzuschließen", warnte er. Da die Briten laut Artikel 50 des EU-Vertrages aber bereits nach zwei Jahren aus allen EU-Strukturen ausscheiden müssten, droht zumindest eine riesige rechtliche Grauzone zu entstehen, warnt auch der Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Nikolai von Ondarza. Ein Überblick über die wichtigsten Felder, in denen Probleme bei einem britischen Austritt entstehen könnten.
WAS PASSIERT BEI EINEM BREXIT?
Ein Mitgliedsstaat muss seinen Austrittswunsch an die EU melden. Dies könnte einige Wochen dauern. Dann würde eine Periode von zwei Jahren beginnen, in denen zunächst über die Austrittsmodalitäten und dann über das neue rechtliche Verhältnis mit der EU verhandelt wird. Artikel 50 sieht die Möglichkeit einer Verlängerung vor. Zumindest Lidington bezweifelt aber, dass alle 27 EU-Staaten dem auch zustimmen würden. Denn die Briten wären in dieser Zeit weiter im EU-Rat mit allen Rechten vertreten, obwohl sie gar nicht mehr dazugehören wollen. Zudem werde in einigen EU-Regierungen diskutiert, ob man einem austretenden Land wirklich entgegenkommen solle, meint auch der SWP-Experte. Die Überlegung dahinter: Weitere EU-Staaten sollten von einem solchen Schritt abgeschreckt werden. Lidington wies darauf hin, dass selbst Grönland bei seiner Abspaltung vom EU-Land Dänemark drei Jahre brauchte, um die Beziehungen mit der EU neu zu regeln - und da sei es fast nur um Fisch gegangen.
FREIHANDEL
Durch den Brexit würde Großbritannien aus rund 50 EU-Freihandelsverträgen mit Drittstaaten fliegen - und müsste diese neu verhandeln. US-Präsident Barack Obama hat bereits angekündigt, dass sich die Briten bei bilateralen Neuverhandlungen "hinten anstellen müssten".
BINNENMARKT
Großbritannien müsste neu klären, wie sein Zugang zum EU-Binnenmarkt aussehen könnte. Dafür gibt es Vorbilder. Allerdings weist das Land einen Überschuss bei Finanzdienstleistungen mit dem Rest der EU auf. EU-Staaten könnten deshalb auf einen eingeschränkten Zugang in diesem Bereich pochen. Was geschieht, wenn die Unternehmen nach zwei Jahren zunächst keinen Zugang mehr zum Binnenmarkt hätten, ist unklar.
PERSONEN
Es muss geklärt werden, wie der Rechtsstatus von Briten in EU-Ländern und der von Kontinental-Europäern in Großbritannien ist. Wer braucht künftig eine Aufenthaltserlaubnis oder sogar ein Visum?
EU-FINANZEN
Die Entkoppelung der britischen Finanzströme von der EU wäre sehr kompliziert. Die EU-Staaten müssten klären, wer die wegfallenden britischen Beiträge im EU-Haushalt übernimmt. Gleichzeitig würden viele Projekte auf der Insel ins Trudeln geraten, weil EU-Zahlungen wegfielen.
EU-BEAMTE/BRITISCHE EP-ABGEORDNETE
In Brüssel gilt bereits ein Stopp für wichtige Personalentscheidungen bis zum 23. Juni. Die britischen Mitarbeiter in der EU-Kommission könnten wohl auch nach dem Ausscheiden des Landes bleiben. Aber Aufstiegschancen dürfte es für sie nicht mehr geben. Die britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament würden laut SWP-Experte von Ondarza wohl erst bei der nächsten Europawahl ausscheiden. Aber schon zuvor müsste geklärt werden, bei welchen Entscheidungen sie noch mitstimmen sollen.
EU-GESETZGEBUNG
Kein Probleme dürfte es bei jenen EU-Rechtsakten geben, die Großbritannien bereits in nationales Recht umgesetzt hat. Schwieriger wäre dies bei Themen, in denen die britische Regierung gerade EU-Recht umsetzt. Brexit-Befürworter fordern, dass sich das Land auch nicht mehr nach der EU-Menschenrechtskonvention richten sollte.
AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK
Die Briten leiten derzeit den Antipiraterie-Einsatz "Atalanta", sie sind auch mit Soldaten in EU-Kampfeinheiten vertreten. Eine Neuordnung in diesem Bereich gilt als relativ unproblematisch.
Reuters