BÖRSE ONLINE: Die EZB hat heute eine weitere Zinssenkung und die Wiederaufnahme der umstrittenen Anleihenkäufe beschlossen. Anleger müssen sich auf eine noch länger andauernde Niedrigzinswelt einstellen. Welche Auswirkungen erwarten Sie?
Jörg Krämer: EZB-Präsident Mario Draghi hat heute das umfangreiche Lockerungspaket bekommen, das er sich bereits für die Juli-Sitzung gewünscht hatte. Insbesondere wird die EZB die Anleihenkäufe wieder aufnehmen - und das ohne zeitliche Begrenzung. Mit dieser Entscheidung hat die EZB ihre lockere Geldpolitik auf Jahre zementiert. Auf der verzweifelten Suche nach Zinsen weichen Anleger immer mehr auf risikoreichere Anlagen aus. Davon werden Aktien profitieren.

Die EZB hat insbesondere Erleichterungen für die von Strafzinsen gebeutelten Banken auf den Weg gebracht. Warum konnten Bankaktien, insbesondere die Aktien von Deutscher Bank und Commerzbank, davon heute nicht profitieren?
Bankaktien im Euroraum haben uneinheitlich reagiert. Zwar sinkt die Netto-Belastung der Banken durch Strafzinsen, weil das Staffelzinssystem den Effekt des gestiegenen Einlagensatzes überkompensiert. Aber die Zementierung der lockeren EZB-Geldpolitik senkt das Zinsniveau an den Kapital- und Kreditmärkten, und darunter leiden natürlich die Banken besonders.

Welche Folgen sehen Sie durch die Wiederaufnahme der Anleihenkäufe?
Trotz ungewöhnlich starken Widerstands im EZB-Rat hat das Gremium vermutlich mit nicht allzugroßer Mehrheit beschlossen, die Nettoanleihenkäufe wieder aufzunehmen. Die EZB hat sie anders als früher nicht zeitlich begrenzt, sondern will sie erst kurz vor einer Zinserhöhung einstellen, zu der es aber realistischerweise auf Jahre nicht kommen wird."

EZB-Chef Mario Draghi übergibt Ende Oktober an seine Nachfolgerin, die frühere IWF-Chefin Christine Lagarde. Welchen Handlungsspielräume hat die künftige EZB-Präsidentin?
Nach unseren Berechnungen besitzt die EZB bereits rund 31 Prozent der kaufbaren Bundesanleihen. Wenn die EZB die Anleihenkäufe wieder aufnimmt, dauert es nur einige Monate, bis die EZB die bisherige Obergrenze von 33 Prozent erreicht. Vermutlich wird die neue Präsidentin Lagarde diese Obergrenze dann anheben. Der Europäische Gerichtshof hat der EZB in einem richtungsweisenden Urteil ohnehin deutlich mehr Spielraum gegeben. Wir erwarten, dass die EZB die Ankaufsobergrenze zunächst von 33 auf 40 Prozent anheben wird. Damit wird die EZB die negativen Renditen an vielen Staatsanleihenmärkten zementieren.