Es ist ein Weckruf für Europa: Die Machtverhältnisse im internationalen Handel verschieben sich weiter in den asiatisch-pazifischen Raum. Während sich die Europäische Union immer noch am Austritt Großbritanniens abarbeitet und die Vereinigten Staaten vor allem mit sich selbst beschäftigt sind, entsteht die größte Freihandelszone der Welt unter Beteiligung Chinas. Am 15. November 2020 haben 15 Staaten, darunter auch Japan und Australien, allerdings ohne Indien, eine umfassende regionale Partnerschaft geschaffen: die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP).

Knapp ein Drittel der Weltbevölkerung und ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung umfasst diese regionale Freihandelszone. Damit stellt sie selbst andere führende Freihandelszonen wie Nordamerika und Europa in den Schatten. Nicht nur die Größe von RCEP ist beeindruckend, sondern auch die Tatsache, dass China und Japan erstmals in einem gemeinsamen Handelsabkommen zusammenfinden.

Die geopolitische Bedeutung von RCEP für die Volksrepublik ist nicht zu unterschätzen. Gepaart mit dem chinesischen Großprojekt der "Neuen Seidenstraße" dürfte das Land seinen Einfluss in der Region weiter ausbauen. Mit dem neuen Handelsabkommen besteht nun eine Plattform, die eine Vertiefung der Handelsbeziehungen in der Region ermöglicht. Lediglich Indien schert hier bislang aus. Das Land hatte sich bereits im Jahr 2019 aus den Verhandlungen zurückgezogen, weil es die Konkurrenz aus den Nachbarländern fürchtete.

China nutzt die Lücke, die Donald Trump geschaffen hat

Das neue Freihandelsabkommen ist nach der modifizierten Transpazifischen Partnerschaft (TPP) bereits das zweite von Asien dominierte Freihandelsabkommen, das während der Amtszeit von US-Präsident Donald Trump geschlossen wurde. Aus Letzterem haben sich die USA unter Trump dann allerdings schnell wieder zurückgezogen. Diese Lücke nutzt China mit großem Geschick. Aktuell befindet sich die Volksrepublik auf der Überholspur, denn das Land stößt in das Machtvakuum, das sich durch den Trump’schen Rückzug aus Abkommen und Bündnissen sowie die Corona-Krise bietet. Die regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft ist damit ein weiterer Beleg für die sich verschiebenden Kräfteverhältnisse zwischen den großen Blöcken der Welt - zugunsten Chinas und Asiens.

Auf- und Ausbau von regionalen Lieferketten wird erleichtert

Auch wenn Details noch ausstehen, so werden doch insbesondere Südkorea, Japan, Malaysia, Thailand und China als Hauptprofiteure gesehen. Der US-amerikanische Thinktank Peterson Institute for International Economics schätzt in einer Analyse, dass bis zum Jahr 2030 durch das Abkommen ein globaler Wachstumsimpuls von 186 Milliarden US-Dollar ausgelöst werden könnte. Noch ist RCEP aber nicht ganz in trockenen Tüchern. Sie muss erst von allen 15 Länderparlamenten ratifiziert werden und tritt in Kraft, wenn die Hälfte aller Mitgliedsländer zugestimmt hat.

Was sind die wichtigsten Ziele des Bündnisses? Dazu gehören der Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen, aber auch eine intensivere Zusammenarbeit in vielen Bereichen und verstärkte Investitionen in die Wirtschaft. Zunächst sollen Zölle und Quoten auf rund 65 Prozent der Waren, die innerhalb der Zone gehandelt werden, direkt entfallen. In 20 Jahren sollen es über 90 Prozent sein. Das Abkommen umfasst auch sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse. Dazu zählen unterschiedliche Standards, beispielsweise bei Dienstleistungen, Investitionen, dem Internethandel oder beim Recht, Aufenthaltsort und Arbeitsplatz frei zu wählen. Besonders wichtig ist dabei die Vereinheitlichung der "Rules of Origin" von einzelnen Komponenten in komplexen Produktionsprozessen. Damit wird nicht zuletzt der Auf- und Ausbau von regionalen Liefernetzwerken enorm erleichtert.

Schon heute ist der Handel zwischen den asiatisch-pazifischen Ländern sehr rege und umfasst aktuell Güter im Wert von rund 12,4 Billionen US-Dollar. Doch sind die neuen Vereinbarungen ein weiterer wichtiger Schritt zur Stärkung der Lieferketten sowie zur generellen Intensivierung zwischenstaatlicher Kooperationen und Investitionen. Dies sollte sich positiv auf Wachstum und Beschäftigung in der Region auswirken.

Das Abkommen bestätigt einen Trend, der sich schon seit geraumer Zeit abzeichnet: die zunehmende Regionalisierung des Welthandels. Es zeigt aber auch, dass sich eine Verschiebung der globalen Wirtschaftsmacht in Richtung der wirtschaftlich besonders dynamischen Länder der Region Asien-Pazifik anbahnt.

Europa braucht Antworten auf diese Entwicklung: Setzt man jetzt auf die alte, aber zuletzt merklich abgekühlte Freundschaft zu den USA? Geht man mit China, das schon jetzt wichtigster Handelspartner vieler EU-Staaten ist? Oder gibt es einen Mittelweg? Wenn man sich dieser Optionen nicht bewusst ist, besteht das Risiko für Europa, zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten.

Weg vom "Home Bias", hin zu internationalen Investments

Umgekehrt gilt aber: Aus einer möglicherweise beschleunigten Wachstumsdynamik in der Region Asien-Pazifik ergeben sich Chancen. Das sollten auch Investoren bedenken. Denn nach wie vor wird gerade bei der Geldanlage gern eher in die Vermögenswerte investiert, die einem näher sind. Grund ist die oft irrige Annahme, dass der vertraute Heimatmarkt bessere Anlageergebnisse bietet. Hier entsteht eine Übergewichtung. Das Phänomen ist unter der Bezeichnung "Home Bias" bekannt. Zwar wird heute im Verhältnis weniger Geld beispielsweise in den DAX-30-Index investiert als vor 20 Jahren und mehr in internationale Anlagen.

Die Schaffung des asiatisch-pazifischen Freihandelsabkommens sollte als willkommener Weckruf genommen werden, noch einmal über die Verteilung der Anlagegelder nachzudenken. Für Asien-Pazifik verspricht RCEP ein höheres Wachstumspotenzial, als es derzeit in Europa zu sehen ist. Dies dürfte sich auch in der Kursentwicklung widerspiegeln.

 


Jörg Zeuner:
Chefvolkswirt bei Union Investment

Zeuner leitet seit 2019 den Bereich Research & Investment Strategy des Portfoliomanagements von Union Investment. Zuvor war er unter anderem Chefvolkswirt der KfW.

Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. Mit aktuell rund 370 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen ist sie einer der größten deutschen Vermögensverwalter für private und institutionelle Anleger.