Angesichts der vielen strukturellen Herausforderungen unserer Zeit, darunter der Klimawandel, die steigende Ressourcennachfrage, zunehmende Umweltbelastungen, die demografische Entwicklung in westlichen Industrienationen sowie der digitale Wandel, stellt sich die Frage, ob Wirtschaftswachstum künftig überhaupt noch sinnvoll ist.

Die derzeit drängendste Herausforderung besteht allerdings darin, die enormen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie aufzufangen. Volkswirtschaften und Unternehmen müssen möglichst schnell in die Lage versetzt werden, negative Einkommenseffekte und explodierende Staatsschulden abzumildern. Es wäre jedoch fatal, bei der Wiederbelebung der Wirtschaft die schon bekannten und nach wie vor relevanten Problemfelder außen vor zu lassen. Vielmehr bietet sich gerade jetzt die Chance, gleichzeitig mit der wirtschaftlichen Erholung die richtigen Weichen zu stellen, um bei der Bewältigung aller genannten Herausforderungen einen Schritt voranzukommen. Die Erholung von der Krise sollte im besten Fall genutzt werden, um "neues" - das heißt verträgliches und in diesem Sinne "gutes" - Wachstum zu erzeugen.

Tatsächlich kann "gutes" Wachstum, das die Bedürfnisse von Menschen, Natur und künftigen Generationen gleichermaßen respektiert, ein wichtiger Teil der Lösung sein. So bedeutet künftiges Wachstum nicht allein "mehr", sondern vor allem "verträglicher". In den zurückliegenden Jahren war technischer Fortschritt ein immer wichtiger werdender Wachstumstreiber. Wachstum entsteht aus Veränderung und Fortschritt, ermöglicht ressourceneffizientere Produktion und dient der qualitativen Verbesserung. Der zunehmenden Weltbevölkerung kann die Erhöhung ihres Wohlstandsniveaus kaum verwehrt werden. In den vergangenen etwa 200 Jahren haben Industrialisierung, Automatisierung und Globalisierung zu einem deutlichen Anstieg des aggregierten globalen Wohlstands beigetragen. Der Anteil jener Menschen, die in extremer Armut leben - also gemäß aktuellem Stand von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag -, ist von 85 Prozent im Jahr 1800 auf neun Prozent 2017 gesunken.

Bis 2030 will die Weltgemeinschaft extreme Armut komplett beseitigen - eine Entwicklung, die ohne Wachstum unmöglich wäre. Schon in den vergangenen Jahren ist es durch eine sinkende Energieintensität der Produktion zu einer relativen Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch gekommen. Die Digitalisierung wird diesen Trend noch verstärken, da der Anteil der weniger energieintensiven Dienstleistungen an der Gesamtproduktion weiter steigen wird. Wertschöpfung wird zunehmend dematerialisiert, Humankapital nimmt als Produktionsfaktor eine immer wichtigere Rolle zulasten von physischem Kapital und der Nutzung von Ressourcen ein. Da Humankapital mithilfe der Digitalisierung dezentral, also von jedem Ort der Welt, eingesetzt werden kann, wird einer immer breiteren Bevölkerungsschicht die Partizipation am steigenden Wohlstand ermöglicht. Die Frage ist also nicht "ob Wachstum", sondern "welches Wachstum". Die Analyse verschiedener alternativer Wachstumsparadigmen zeigt, dass Wachstum und Umweltschutz in Einklang zu bringen sind. Der "grünes Wachstum"-Ansatz erlaubt wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiges Wachstum. Zur Umsetzung bedarf es einer Modernisierung der gesamten Wirtschaft, eines strukturellen Wandels der Produktion und des Konsumverhaltens, aber keines Systemwechsels. Durch die Bewertung natürlicher Ressourcen und die Bepreisung von Externalitäten - beispielsweise der Luftverschmutzung - kann verträgliches Wachstum ökonomisch rentabler gemacht werden.

Voraussetzung dafür ist, dass die Politik sich an den gesellschaftlichen Werten und Vorstellungen orientiert und dazu passende, verlässliche Handlungs- und Entscheidungsanreize setzt. Bei Marktversagen bedarf es einer staatlichen Regulierung, etwa weil es für einige natürliche Ressourcen wie saubere Luft keine Knappheitspreise gibt. Die von Konsumenten formulierten Bedürfnisse können dann über marktwirtschaftliche Prozesse dezentral von Unternehmen ressourceneffizient und mithilfe neuester Technologien bereitgestellt werden.

Über Carsten Mumm


Der gelernte Bankkaufmann und diplomierte Volkswirt leitet die Kapitalmarktanalyse der Privatbank Donner & Reuschel. Seit 2017 ist er auch Chefvolkswirt des Hauses. Er beschäftigt sich bereits seit 1998 beruflich mit dem Thema Kapitalanlage. 2006 qualifizierte er sich zum Chartered Financial Analyst.