Das abgelaufene Jahr hat ganz im Zeichen der Pandemie gestanden. Dass dies so kommen würde, war aber im Januar 2020 noch nicht absehbar. Zinsexperte Christoph Rieger von der Commerzbank sagte zu diesem Zeitpunkt für das Ende des Corona-Jahres bei den deutschen Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren eine Rendite von minus 0,5 Prozent voraus - und lag damit goldrichtig. Weil er in den Folgemonaten an seinen Schätzungen weitgehend festhielt und gleichzeitig bei der Prognose des Zinssatzes Euribor für drei Monate ebenfalls ziemlich gut lag, schaffte es Rieger erneut, den Titel "Zinsexperte des Jahres" zu erringen. Im Interview gibt Dauersieger Rieger einen wirtschaftlichen Ausblick auf das Jahr 2021 und sagt, wer Fußball-Europameister wird.
€uro: Herr Rieger, erneut haben Sie es geschafft, Zinsexperte des Jahres zu werden. Glückwunsch! Wie haben Sie dieses seltsame Jahr 2020 erlebt?
Christoph Rieger: Im März hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt. Die erste Reaktion der Europäischen Zentralbank (EZB) wurde als halbherzig wahrgenommen, sodass sich der Ausverkauf an Aktien- und Anleihemärkten gegenseitig hochschaukelte. Selbst sichere Häfen wie Bundesanleihen oder Gold brachen ein, da Investoren liquide Assets verkaufen mussten, um Cash zu generieren.
Was bedeutete das für Sie?
In dieser Zeit hatte ich fast jede Woche eine Ad-hoc-Telefonkonferenz mit der ECB Bond Market Contact Group. Wir hatten in vergangenen Krisen zwar viele Erfahrungen gesammelt. Die Herausforderungen durch eine Pandemie waren jedoch neu. Glücklicherweise hat die Umstellung auf Homeoffice in meinem Team reibungslos funktioniert. Es bleibt aber eine Herausforderung, die vielfältigen Interaktionen mit Kunden und Kollegen zu digitalisieren.
Klingt nicht danach, als wäre es da leicht gewesen, genaue Zinsprognosen zu erstellen ...
Das vergangene Jahr lässt sich wohl am besten zusammenfassen mit den Worten "right for the wrong reasons". Prognosen waren richtig aus den falschen Gründen, und sämtliche Annahmen etwa zum Wirtschaftswachstum, zur Inflation oder zu den Emissionsvolumina wurden über den Haufen geworfen.
Also ein einziges Tohuwabohu?
Na ja, letztendlich halten sich die seismischen Verschiebungen in der Waage. Den rekordhohen Emissionsvolumen bei Anleihen stehen rekordhohe Käufe der Zentralbanken gegenüber. Die tiefe Rezession schürt Deflationssorgen, die beispiellosen Gegenmaßnahmen der Regierungen und Zentralbanken bergen längerfristig hingegen Inflationsgefahren.
Und das bedeutet?
In diesem unsicheren Umfeld ist es wichtig, einige strukturelle Gegebenheiten richtig einzuschätzen. So spricht der massive Anstieg der Verschuldung zwar für höhere Zinsen. Damit die Schulden tragfähig bleiben und keine "Schuldendeflation" entsteht, dürften die Zentralbanken jedoch dafür sorgen, dass die Zinsen über sehr lange Zeit sehr niedrig gehalten werden. Die Realzinsen, also die Zinsen nach Abzug der Inflation, sind bereits jetzt tief negativ und können noch weiter fallen.
Was heißt das für die Zinspolitik der EZB in diesem Jahr?
Die EZB hat mittlerweile ein Regime eingeführt, das ich als "implizite Zinskurvenkontrolle" bezeichne. Anders als etwa die Bank of Japan kann sich die EZB aus rechtlichen und praktischen Gründen kein explizites Zinsziel am längeren Ende der Zinskurve vorgeben. Über ihre vielfältigen Interventionen und Kommunikation zielt sie jedoch darauf ab, das Renditeniveau und die Renditeunterschiede entlang der Kurve unter Kontrolle zu halten.
Was heißt das konkret?
Die Staatsanleihekäufe der EZB werden in diesem Jahr in etwa so hoch sein wie die Budgetdefizite der Eurostaaten. Was die Leitzinsen angeht, so wird die EZB nicht müde zu betonen, dass auch bei minus 0,5 Prozent noch nicht Schluss nach unten sein müsse. Sofern der Euro aber nicht unangemessen aufwertet oder sich die Inflationsaussichten dramatisch verändern, ist jedoch wohl nicht damit zu rechnen, dass die EZB die Zinsen weiter senken wird.
Also höhere Zinsen?
Nein. Zinserhöhungen sind über viele Jahre hinweg sehr unwahrscheinlich.
Und in den USA?
Die kurzen Zinsen in den USA bleiben bei einem Satz nahe null fest verankert. Durch die neue Strategie eines flexiblen Inflationsdurchschnittsziels beabsichtigt die US-Notenbank, die Zinsen nicht anzuheben, bis abzusehen ist, dass die Inflationsrate die Zwei-Prozent-Marke für einige Zeit überschreiten wird. Zinserhöhungen sind damit in den nächsten Jahren auch in den USA wohl kein Thema.
Wie sind denn die Prognosen für die US-Wirtschaft?
Nicht schlecht. Wegen der staatlichen Hilfsprogramme sind die Einkommen während der Krise in den USA sogar gestiegen. Durch eingeschränkte Konsummöglichkeiten im Lockdown ist das aufgestaute Sparvolumen damit auf über 1,5 Billionen US-Dollar gewachsen. Hinzu kommt das neue Hilfsprogramm im Volumen von 900 Milliarden Dollar, und die demokratischen Mehrheiten im Kongress schüren Hoffnungen auf mehr. Das alles dürfte die Wirtschaft anschieben.
Apropos Sparen: Auch die Deutschen horten eifrig Geld ...
In der Pandemie haben sich in Deutschland enorme "Corona-Ersparnisse" aufgebaut. Wenn die Lockdowns enden und sich das Vertrauen in die Konjunkturerholung festigt, dürften die rekordhohen Sparvolumen einen kräftigen Nachfrageimpuls auslösen.
Also sind Sie recht optimistisch für die deutsche Konjunktur?
Ja, zumal Deutschland durch seine Exportstärke von der guten wirtschaftlichen Entwicklung in China profitiert.
China kommt demnach besser durch die Pandemie?
Richtig. Die erfolgreiche Eindämmung des Infektionsgeschehens hat den Aufholprozess der asiatischen Volkswirtschaften beschleunigt, angeführt von China, das als einziges großes Land 2020 wohl ein positives Wachstum verzeichnete.
Europa dagegen leidet stark unter Corona und muss zusätzlich jetzt noch den Brexit verkraften.
Durch das geschlossene Handelsabkommen mit Großbritannien werden zwar Chaos und Rückfall auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) vermieden. Allerdings ist das Abkommen schlechter als der bisherige Status quo, da der gemeinsame Handel künftig durch nichttarifäre Hemmnisse gebremst wird und Dienstleistungen außen vor sind.
Wie wird sich das auf die Konjunktur auswirken?
Gemäß den Studien, die von der EZB ausgewertet wurden, wird das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) langfristig in Großbritannien um 2,1 Prozent und in der EU-27 um 0,4 Prozent niedriger ausfallen als bei einer fortgesetzten Mitgliedschaft der Briten in der Europäischen Union.
Was glauben Sie, wie stark wird dieses Jahr durch Corona geprägt?
Nach einem sehr harten Winter darf ab Frühjahr mit einer Entspannung gerechnet werden. Durch den saisonalen Rückgang der Neuinfektionen und Impffortschritten bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen sollte es jedoch möglich sein, die Corona-Restriktionen zu lockern, bevor Herdenimmunität erreicht ist.
Dann könnte ja vielleicht im Sommer die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden. Wer gewinnt?
Mein Europameister-Tipp ist Frankreich, wobei auch England diesmal positiv überraschen könnte.
Der Wettbewerb
Die besten Zinsprognosen
Jeden Monat befragt €uro zwölf Zinsexperten nach ihrer Prognose für den Zinssatz Drei-Monats-Euribor zu drei unterschiedlichen Stichtagen. Am Jahresende werden die Prognosen mit den realen Werten abgeglichen. Eine einmal nicht abgegebene Prognose führt zum Ausschluss aus der Wertung. Die Sieger: 1. Platz: Carsten Klude, M.M. Warburg; 2. Platz: Christoph Rieger, Commerzbank; 3. Platz: Birgit Henseler, DZ Bank
Die besten Renditeprognosen
Zudem befragt €uro monatlich die zwölf Zinsexperten nach der Prognose für die Rendite von Bundesanleihen mit zehn Jahren Laufzeit. Am Jahresende werden die Prognosen mit den realen Werten abgeglichen. Eine einmal nicht abgegebene Prognose führt zum Ausschluss. Die Sieger: 1. Platz: Christoph Rieger, Commerzbank; 2. Platz: Stefan Schilbe, HSBC Trinkaus & Burkhardt; 3. Platz: Manfred Bucher/Norbert Wuthe, Bayern LB
Die Gesamtwertung
Die Platzierungen der Zinsexperten aus den beiden oben genannten Kategorien fließen in die Gesamtwertung ein. Dabei wird die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihen etwas höher gewichtet als der Drei-Monats-Euribor. Der Erstplatzierte wird von €uro zum "Zinsexperten des Jahres" gekürt. Die Sieger: 1. Platz: Christoph Rieger, Commerzbank; 2. Platz: Birgit Henseler, DZ Bank; 3. Platz: Carsten Klude, M.M. Warburg