boerse-online.de: Herr Oh, wird das Jahr 2022 das Jahr der Inflation?
Steven Oh: Die Inflationserwartungen stehen bei den Anlegern nach wie vor im Vordergrund, da der Preisanstieg länger anhält als von vielen erwartet, was Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf festverzinsliche Anlageklassen weckt.
Wird die Teuerungsrate also weiter ansteigen?
Ich halte ein anhaltend hohes Inflationsniveau nach wie vor für unwahrscheinlich und gehen davon aus, dass ein Großteil des derzeitigen Preisanstiegs in erster Linie auf wieder aufkommende Nachfrage- und Lieferkettenengpässe zurückzuführen ist, die sich gegen Ende 2022 auflösen werden.
Ist das Thema dann vom Tisch?
Längerfristig betrachtet stellt sich die Frage: Welche strukturellen Faktoren haben vor der Pandemie zu dem anhaltenden säkularen Rückgang der Inflation geführt, und werden sie sich ändern?
Welche Faktoren sind das Ihrer Meinung nach?
Betrachtet man die Gründe für die niedrige Inflation in den letzten Jahrzehnten, so lassen sich drei Hauptfaktoren ausmachen: Erstens demografische Trends, einschließlich einer alternden Bevölkerung und sinkender Geburtenraten, insbesondere in den Industrieländern; zweitens die Auswirkungen des technologischen Fortschritts; und drittens eine weltweite Sparschwemme.
Heißt das, dass die Inflationsraten wieder auf das Niveau von vor der Pandemie sinken werden?
Das Inflationsniveau wird sich jedoch auf einem höheren Niveau einpendeln.
Erwarten Sie durch die höhere Inflation einen Anstieg der Zinssätze?
Ich denke, dass die Fed in den USA letztlich einen neutralen Leitzins im niedrigen bis mittleren Ein-Prozent-Bereich erreichen wird, was auf absehbare Zeit zu negativen realen Leitzinsen führen wird. Ähnlich verhält es sich mit der EZB, die seit einiger Zeit mit negativen Zinssätze arbeitet, und ich rechne damit, dass die Leitzinsen für einige Zeit nicht über Null hinausgehen werden.
Welche Folgen hätte dies für die Finanzmärkte? Würden dann Aktien und beispielsweise Immobilien weniger gefragt sein?
Insgesamt wird die Geldpolitik Risikoanlagen, einschließlich Aktien und Realwerte, weiterhin unterstützen. Bei den festverzinslichen Wertpapieren sehe ich aufgrund der soliden Ertragsaussichten der Unternehmen weiterhin Rückenwind für Kredite, die sich jedoch langsamer und mit größerer Streuung verbessern, da der Kostendruck in bestimmten Marktsegmenten zu einem Rückgang der Margen führt.
Die Pandemie hat die Staatsverschuldung rund um den Globus erneut ansteigen lassen - macht Ihnen das Sorgen?
Die höheren Schulden bergen zwar das Potenzial für künftige Risiken, einschließlich Inflationsdruck, wenn die Defizite weiter steigen, doch stellt die derzeitige Ausweitung kein wesentliches langfristiges Risiko dar. Die absolut niedrigen Kosten der Verschuldung führen zu einer größeren Fähigkeit, die Schulden zu bedienen, und Länder, die Reservewährungen sind, haben mehr Spielraum für eine Expansion mit weniger negativen Auswirkungen.
Wie sollte man sein Portfolio nun positionieren?
Angesichts der zu erwartenden kurzfristigen Volatilität in der Post-Covid-Ära halte ich es für ratsam, etwas trockenes Pulver in Form von hochwertigen Wertpapieren mit kurzer Laufzeit bereitzuhalten, um in Schwächephasen handeln zu können.
Ihre persönliche Lehre aus den vergangenen fast zwei Jahren der Pandemie?
Die Lehren sind nicht die gleichen wie in früheren Stress- und Krisenzeiten. Es ist am besten, sich defensiv zu positionieren, wenn die Märkte das Risiko ablehnen, und die besten Chancen ergeben sich in Zeiten der Angst, wenn die Fähigkeit, gute Unternehmen und Vermögenswerte auszuwählen, die von panischen Verkäufern abgestoßen werden, letztlich zu Überrenditen führt. Liquidität ist ein Schlüsselkriterium für Portfolios und Unternehmen in Stressphasen. Schließlich werden künftige Marktschocks wahrscheinlich von kürzerer Dauer sein, so dass die Anleger sehr schnell reagieren müssen, um die sich bietenden Chancen zu ergreifen, und obwohl niemand "ein fallendes Messer fangen" will, ist der ideale Zeitpunkt für einen Kauf, wenn die Preise fallen, weil der Verkaufsdruck zunimmt.
Zur Person:
Steven Oh leitet das weltweite Geschäft mit Anleihen beim US-Vermögensverwalter Pine Brigde. Der Amerikaner ist vor allem im angelsächsischen Raum ein gefragter Zinsexperte.