Fortan können sich Geschädigte an einen verbraucherorientierten Verband wenden, der unter bestimmten Voraussetzungen eine sogenannte Musterfeststellungsklage gegen das beschuldigte Unternehmen einreichen kann. Stellt ein Gericht dann einen tatsächlichen Schaden fest, können Betroffene auf dieser Basis Schadenersatz einklagen. Das neue Verfahren gibt Verbrauchern in Deutschland tatsächlich mehr Macht, aber nur ein bisschen, sagt Otmar Lell, Rechtsexperte des Verbraucherzentrale Bundesverbands, im Gespräch mit boerseonline.de.

BÖRSE ONLINE: Herr Lell, muss VW nun Schadensersatzforderungen in Höhe von vielen Milliarden Euro fürchten, weil sich zwei Millionen Fahrer manipulierter Diesel-Autos mit Hilfe des neuen Instruments der Musterfeststellungsklagen gerichtlich gegen den Konzern wehren werden?


Otmar Lell: Die Erfahrung zeigt, dass sich nur ein geringer Prozentsatz der Betroffenen solchen Klagen anschließt. Das macht die Sache für VW überschaubar. In Österreich, wo es bereits Sammelklagen gibt, schließen sich in der Regel nur etwa fünf Prozent der Berechtigten solchen Klagen an. Das macht deutlich, dass die Forderungen in Deutschland auch auf der Basis von Musterfeststellungsklagen nicht exzessiv sein werden.

Lassen sich die fünf Prozent aus Österreich eins zu eins auf Deutschland übertragen? Das Sammelklageverfahren in Österreich funktioniert ja etwas anders. Liegt das Potenzial hierzulande vielleicht eher bei zehn bis zwanzig Prozent?


Wenn sich an den geplanten Musterfeststellungsverfahren ein Viertel der Betroffenen beteiligen würde, dann wäre das schon extrem viel.

Bislang hatten wir den Eindruck, dass VW im Zusammenhang mit den Diesel-Abgas-Betrügereien in Deutschland keine hohen Schadenersatzzahlungen zu befürchten hat. Das erklären sich viele Deutsche schlicht damit, dass die Bundesregierung auf gar keinen Fall das Risiko eingehen will, einen Konzern wie VW finanziell in die Bredouille zu bringen. Hat der Bund seine schützende Hand über VW nun zurückgezogen?


Der VW-Dieselskandal hat deutlich gemacht, dass es bei uns große Defizite beim Thema der kollektiven Rechtsdurchsetzung gibt. Als der Abgasbetrug im Herbst 2015 auffiel, dachten viele in Deutschland einerseits, es müsse etwas für die geschädigten Autofahrer getan werden. Zugleich aber gab es andererseits auch Angst vor einer VW-Pleite für den Fall, dass zu hohe Schadenersatzzahlungen durchgesetzt würden.

Und jetzt?


Jetzt gibt es ein maßvolles Gesetz.

Der Einführungstermin 1. November 2018 wird vom Bundesjustizministerium in der Tat vor allem mit der Causa VW begründet. Was ist der Grund dafür?


Mit Blick auf VW gibt es extremen Zeitdruck. Das Gesetz muss am 1. November 2018 in Kraft treten, damit in diesem Jahr noch eine Klage gegen VW erhoben werden kann. Die Ansprüche der Geschädigten verjähren zum 31. Dezember 2018. Nur wenn die Klage davor erhoben wird, kann die verjährungshemmende Wirkung der Musterfeststellungsklage noch greifen, und nur dann haben die Geschädigten noch etwas von der Klage.

Halten Sie es für möglich, dass der 1. November nicht zu halten sein könnte, weil zum Beispiel im Bundesrat, der bei dem Gesetz mitredet, auf Betreiben des VW-Landes Niedersachsen noch sehr lange diskutiert wird?


Denkbar wäre eine Verschiebung des Gesetzes schon, aber wahrscheinlich ist das nicht. Die Bundesregierung hat sich sehr klar positioniert, das Musterfeststellungsverfahren zum 1. November einzuführen. Dass die Regierung es damit ernst meint, zeigt schon der Umstand, dass Bundesjustizministerin Katarina Barley bereits 24 Stunden nach ihrem Amtsantritt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hatte. Schneller geht es nicht.

Wenn sich - wie im geplanten Verfahren vorgesehen - mindestens zehn potenziell Geschädigte in welcher Sache auch immer an den Verbraucherzentrale Bundesverband wenden: Würde Ihr Verband dann auf jeden Fall eine Musterfeststellungsklage einreichen? Oder gibt es denkbare Fälle, die Sie grundsätzlich ablehnen würden?


Tabufälle sehe ich nicht, aber ich sehe kapazitätstechnische Einschränkungen. Musterfeststellungsverfahren binden Kapazitäten, ohne Ressourcen zu generieren.

Also ohne, dass Ihr Verband Geld dafür bekäme. Die Bundesregierung rechnet jährlich mit etwa 450 Fällen und akzeptiert etwa 30 Verbände, die auf Musterfeststellung klagen dürften. Macht im Schnitt 15 Klagen je Verband. Wie viele Fälle könnten Sie denn innerhalb eines Jahres übernehmen?


Wir können keine große Zahl solcher Musterfeststellungsverfahren stemmen. Ein halbes Dutzend Fälle wäre eher schon zu viel, zumal sich die meisten Verfahren mehrere Jahre hinziehen, bis vom Gericht entschieden wird. Und dann stellt sich die Frage, wie viel Aufwand nach der Musterfeststellung noch entsteht und welche Haftungsrisiken auf uns zukommen.

Frau Barley erhofft sich von dem geplanten Verfahren bessere Chancen dafür, dass sich beschuldigte Unternehmen auf einen Vergleich einlassen, statt sich grundsätzlich um Schadenersatzzahlungen zu drücken. Heißt das, dass Geschädigte und zum Beispiel Ihr Verband künftig unter Druck geraten, auch auf Vergleichsangebote einzugehen, mit denen sie erheblich schlechter fahren als mit einer bis zum Ende durchgezogenen Schadenersatzklage?


Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir einem Vergleich zustimmen, bei dem die Geschädigten auf den größten Teil ihrer Ansprüche verzichten müssten.

Unterm Strich bleibt der Eindruck, dass Unternehmen von deutschen Verbrauchern auch mit dieser Form der Sammelklage light nicht viel zu befürchten haben. Jedenfalls nicht so viel wie in den USA, wo Firmen zu horrenden Schadenersatzsummen verurteilt werden, nur weil jemand vorgibt, nicht darüber informiert worden zu sein, dass Kaffee heiß ist oder Eis eher kalt.


Dass in den USA mitunter exorbitant wirkende Zahlungen erstritten werden, hat damit zu tun, dass es dort in solchen Fällen nicht nur um Schadenersatz, sondern um Strafschadenersatz geht. Mit dem eigentlichen Schadenersatz werden also Sanktionen für begangenes Unrecht verhängt.

Herr Lell, danke fürs Gespräch.