Hamburg im Sommer 2018: Thomas Middelhoff erscheint zum Interviewtermin im weißen Hemd. Es ist so weit aufgeknöpft, dass der Ansatz einer frischen Operationsnarbe entlang des Brustbeins zu sehen ist. Ist das offene Hemd ein Zeichen von Entspanntheit, sozusagen der neue Middelhoff? Oder will der ehemalige Manager darauf hinweisen, wie übel ihm mitgespielt worden sei - also der alte Middelhoff, der stets nach Aufmerksamkeit heischte? Immerhin resultiert die Herzoperation aus einer Autoimmunerkrankung, die bei dem ehemaligen Chef des Medienkonzerns Bertelsmann während eines Gefängnisaufenthalts ausbrach und falsch behandelt wurde.

Die Frage bleibt offen, denn im Gespräch mit BÖRSE ONLINE zeigt der 65-jährige Middelhoff beide Facetten. Einerseits bekennt er Fehler in der Vergangenheit ("ich war ein Mensch, der in sich selbst und sein Bild in den Medien verliebt war") und sieht sich auf einem neuen Weg ("ich fühle mich von Gott getragen"). Andererseits hadert er mit seinen Widersachern ("ich bin im juristischen Sinn zu Unrecht verurteilt worden"). Middelhoff saß ab Mai 2016 für eineinhalb Jahre wegen Untreue und Steuerhinterziehung in Haft.

Klar ist: Wohl nur wenige Wirtschaftsvertreter haben einen so tiefen Fall erlebt wie er. Erst der wohl bestbezahlte Manager Europas, dann in Haft, schwer krank und mittlerweile in Privatinsolvenz. Und mindestens ebenso bemerkenswert: Kaum ein deutscher Topmanager hat in den 90er-Jahren so viele ökonomische Entwicklungen rund ums Internet vorhergesehen wie er.

Sein Meisterstück gelang ihm in dieser Zeit bei Bertelsmann. Middelhoff (früherer Spitzname: Big T.) vereinbarte mit dem damaligen Internetriesen AOL ein Joint Venture namens AOL Europe und verkaufte im Jahr 2000 die Anteile für umgerechnet knapp sieben Milliarden Euro - ein Vielfaches des Einstiegspreises. Damit hatte er durch eine einzige Transaktion das Eigenkapital von Bertelsmann, das in der bis dato 175-jährigen Unternehmensgeschichte aufgelaufen war, einfach mal versechsfacht. Aus diesem Erlös wurde unter anderem die Übernahme der Fernsehgruppe RTL finanziert, die bis heute über die Hälfte des Jahresüberschusses von Bertelsmann generiert. Andere zukunftsträchtige Transaktionen kamen nicht zustande - zum Leidwesen Middelhoffs: "Ich kenne Amazon-Chef Jeff Bezos seit 1994. Als ich ihn das erste Mal besuchte, hatte er 40 bis 50 Mitarbeiter und packte im Weihnachtsgeschäft in einer großen Garage selbst ein. Damals hatte ich ein Joint Venture mit ihm verhandelt, das dann der Bertelsmann-Vorstand nicht wollte."

2002 verließ der gebürtige Düsseldorfer Bertelsmann und startete 2003 bei der Londoner Beteiligungsgesellschaft Investcorp. Das lohnte sich für seinen neuen Arbeitgeber. 2004 kaufte Investcorp den Stuttgarter Parkhausbetreiber Apcoa Parking für 270 Millionen Euro. 2007 reichte Investcorp Apcoa für 850 Millionen Euro an die französische Eurazeo weiter.

Weniger Glück hatte er in seinem nächsten Job. 2004 bis 2009 leitete Middelhoff, der aus einer katholischen Unternehmerfamilie stammt, erst den Aufsichtsrat, dann den Vorstand des Handelsriesen Karstadt-Quelle (später: Arcandor). Wenige Monate nach seinem Ausscheiden ging Arcandor in Planinsolvenz. Anschließend hatte er eine Reihe von Mandaten bei in- und ausländischen Konzernen inne, die er inzwischen allesamt aufgegeben hat.

Finanziell haben sich die Transaktionen auch für Middelhoff selbst durchaus gelohnt. Allein für den Deal mit AOL Europe erhielt er einen Bonus von 40 Millionen Euro. Entsprechend großzügig war sein Lebensstil. Neben seinem Haus in Bielefeld mit 30 000 Quadratmetern Grund besaß er eine Villa im französischen Saint-Tropez und eine große Jacht. Und all das zeigte er gern öffentlich her.

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Immer neue Vorwürfe



Nach eigenen Angaben ist das mittlerweile alles weg. Er wohnt in Hamburg zur Miete und fährt einen alten Citroën Kombi. Allerdings bezweifelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld, ob hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Sie hat Mitte 2018 Ermittlungen eingeleitet, ob Middelhoff vor seiner Privatinsolvenz Teile seines Vermögens beiseitegeschafft hat. Sein Insolvenzverwalter spricht von gut fünf Millionen Euro. Middelhoff will das nicht auf sich sitzen lassen: "Der Vorwurf, ich hätte Millionen verschoben, entbehrt jeder Grundlage. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen im Rahmen des Gesetzes gehandelt."

Middelhoff hat nach eigenen Worten mittlerweile ein neues Leben begonnen - getrennt von seiner Frau, mit der er fünf Kinder hat. Und er habe sich während seiner Haft dem katholischen Glauben angenähert (die Verurteilung entsprang Vorgängen während seiner Zeit bei Karstadt-Quelle/Arcandor). "Nach einer Woche im Gefängnis hatte ich den Drang, in der Bibel zu lesen. Dann habe ich begonnen, Rosenkranz zu beten, erst einmal am Tag, dann zweimal. Schließlich bin ich zum ersten Mal seit fast 40 Jahren wieder zur Beichte gegangen. Da musste sich der Priester natürlich einiges anhören."

Bei Amazon skeptisch



Trotz seines Rückzugs ins Privatleben und des kompletten Verkaufs seiner Aktienbestände ist Middelhoff nach wie vor an der Medienbranche interessiert. Er rät Anlegern dringend zur Apple-Aktie und sagt: "Nach meinem Dafürhalten ist nicht erkennbar, dass die Innovationskraft von Apple nachlässt. Im Gegenteil: Ich sehe vielfältige weitere Anwendungsmöglichkeiten." Bei Amazon ist er "ein bisschen nachdenklich, was die mittelfristige Zukunft betrifft. Ein Großteil des Gewinns kommt aus dem Geschäft mit der Cloud, also der Bereitstellung von Infrastruktur rund um Informationstechnik. Das kann man sehr leicht kopieren, da sieht sich Amazon auch zukünftig einem harten Wettbewerb ausgesetzt. Die Marge schmilzt dahin."

Netflix hält Middelhoff für einen "klaren Kauf" und begründet das so: "Auch wenn sie jetzt ein schwächeres Wachstum haben, trägt das Geschäftsmodell. Die haben ja jetzt ein Subskriptionsmodell, in dem es verbindliche Vorbestellungen gibt. Das ist unglaublich profitabel und hat eine hohe Kalkulierbarkeit. Bertelsmann hatte mit der Mitgliedschaft im Buchclub Ähnliches. Zudem schafft es Netflix, sich mit eigenen Inhalten so zu differenzieren, dass es ein attraktiver Lieferant ist."

Welche Medienaktie gefällt ihm sonst noch? Jene der US-Tageszeitung "New York Times". Middelhoff: "Das sage ich nicht nur, weil ich dort 20 Jahre im Aufsichtsrat war. Sondern weil es das wohl einzige Unternehmen ist, das weltweit als vertrauenswürdige Marke im Nachrichtenbereich durchgeht. Wenn jemand Google bei Inhalten Paroli bieten könnte, wäre das die ,New York Times‘."

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