Der gelernte Bankkaufmann und studierte Diplom-Volkswirt ist seit 1998 im Bereich Kapitalanlage beschäftigt. 2006 qualifizierte er sich zum Chartered Financial Analyst (CFA). Heute ist er Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel und Lehrbeauftragter an der International School of Management, sowie ehrenamtlicher Mentor an der EBC Hochschule in Hamburg.


BÖRSE-ONLINE.de: Sie sind Chefvolkswirt bei Donner & Reuschel. Wäre für Sie auch ein anderer Berufsweg in Frage gekommen?
Carsten Mumm: Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof. Die Landwirtschaft wurde mir also quasi in die Wiege gelegt. Grundsätzlich hätte ich mir diesen Beruf auch gut vorstellen können. Dann habe ich mich aber erst einmal für eine Banklehre entschieden und es hat sich anders ergeben.

Heute befassen Sie sich als Volkswirt mit der Börse. Gibt es da auch Parallelen zur Landwirtschaft?
Gemeinsam haben sie vor allem, dass sowohl an der Börse wie auch in der Landwirtschaft immer unvorhergesehene Ereignisse eintreten können und man sich nie zu sicher über die zukünftigen Entwicklungen sein sollte. Man kann nicht alles beeinflussen und muss sich mit dem Risiko arrangieren. Man brauch also eine Strategie, die einem dabei hilft, in einer neuen Situation oder gar in einer Krise die Ruhe zu bewahren und schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das erfordert eine gute Planung, aber auch Demut.

Nach der Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank absolvierten Sie das Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. War Ihnen damals schon klar, dass Sie Volkswirt werden wollten?
Ich hatte das Themenfeld auf jeden Fall schon länger im Blick, wenngleich man nicht behaupten kann, dass ich ohne weitere Umwege genau diesen Weg angestrebt habe. Der Zusammenhang der großen übergeordneten Entwicklungen auf der Makro-Ebene hat mich aber schon immer fasziniert, deutlich mehr als betriebswirtschaftliche Aspekte. Hinzu kommt die enge Verbindung des Fachs zur Politik, zu gesellschaftlichen und letztlich auch psychologischen Faktoren - eine spannende Kombination, wie ich finde.

Was fasziniert Sie an dem Fachgebiet besonders?
Vor allem die Verbindung der volkswirtschaftlichen Theorie mit der Praxis, insbesondere mit den Entwicklungen an den Kapitalmärkten. Dort finden alle genannten Aspekte zusammen, es werden Erwartungen gebildet und diese in Kursbewegungen übersetzt. Und man kann wirklich sagen, dass grundsätzlich jegliche Neuigkeit Einfluss auf die Börsen haben kann. Dazu gehören die klassischen Faktoren, wie Unternehmensgewinne, Zinsen oder die Konjunktur. Aber letztlich können auch andere Dinge, wie beispielsweise Wetterereignisse, große Sportveranstaltungen oder Terroranschläge relevant sein. Man muss wirklich alles im Blick behalten und in diesem Sinne sehr umfassend informiert bleiben.

Wie sieht ein typischer Tag in Ihrem Beruf als Chefvolkswirt aus?
Natürlich beginnt der Tag mit einem Check der aktuellen Nachrichtenlage. Wie haben sich die Börsen in Asien entwickelt? Welche Faktoren beeinflussen heute den Markt? Grundsätzlich habe ich aber eher einen mittel- bis langfristigen Fokus. Tagesbewegungen spielen dabei im Normalfall nur eine untergeordnete Rolle. Darum beschäftige ich mich viel mit der Analyse entsprechender Faktoren und deren möglicher Wirkung auf die Konjunktur und die Märkte. Dazu gehören volkswirtschaftliche Frühindikatoren, wie Einkaufsmanagerindizes genauso wie die Inflationsentwicklung oder auch geld- und fiskalpolitische Parameter. Meine Erkenntnisse gebe ich dann schriftlich oder im Rahmen von Vorträgen, Diskussionsrunden oder internen Meetings weiter, zum Beispiel an unser Portfoliomanagement oder auch die Öffentlichkeit.

Hat die Volkswirtschaftslehre heute die richtigen Antworten auf die Fragen der Zeit?
Insbesondere nach der großen Finanz-, Wirtschafts- und letztlich Staatsschuldenkrise 2008/2009 stand die Volkswirtschaftslehre in der Kritik. Man hätte die massiven Fehlallokationen, beispielsweise im Immobiliensektor in den USA, früher erkennen und deutlicher warnen müssen, hieß es damals oft. Und tatsächlich haben sich einige Volkswirte - und viele andere wie etwa Regulatoren, Politiker und Notenbanker - damals vielleicht zu sehr an theoretischen Modellen orientiert und wichtige Entwicklungen sozusagen im "wahren Leben" nicht wahrgenommen. Auch die Wirkung der jahrelangen ultra-expansiven Geldpolitik vieler Notenbanken nach der Krise wurde von vielen anders eingeschätzt. Die allgemeine Erwartung war ein deutlicher Ansprung der Inflation, der aber erst jetzt und vornehmlich aus anderen Gründen als der reinen Geldmengenausweitung entsteht. Ich denke, daraus hat die Wissenschaft gelernt.

Was hat sich verändert?
Man bezieht heute viel stärker psychologische Zusammenhänge mit ein. Allerdings muss man auch sagen, dass in volkswirtschaftlichen Belangen und vor allem an den Börsen meistens kein einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang aufgestellt werden kann. Die Dinge sind komplexer, als vereinfachende Modelle es suggerieren, weshalb Volkswirte kaum von Gewissheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeiten sprechen können. Es gibt hunderte verschiedene Einflussfaktoren, die auf eine inhomogene Gruppe, seien es Einwohner eines Staates, Anleger an der Börse oder auch die Gemeinschaft aller Menschen mit immer wieder veränderten Gewichtungen, wirken. Da ist, bildlich gesprochen, 1 plus 1 nicht immer 2, sondern oft auch 1,5 oder 2,5. Heute zeigt sich, dass das Weltgeschehen unglaublich eng vernetzt ist. Einer Pandemie und geopolitischen Entwicklungen, vor allem aber auch dem Klimawandel, kann nur durch globale Interaktion wirkungsvoll begegnet werden. Da kann die Volkswirtschaftslehre gemeinsam mit verwandten Disziplinen einen wertvollen Beitrag zur Erstellung von Lösungswegen leisten.

Gehen Sie davon aus, dass es zu solchen globalen Interaktionen tatsächlich kommen kann, oder sind Sie eher skeptisch?
Ich denke, dass es schon in den kommenden Jahren zu einer engeren Abstimmung auf internationaler Ebene kommt. Der gesellschaftliche Druck wird meiner Einschätzung nach so stark zunehmen, dass Politiker diesen nicht einfach übersehen können. Ein Beispiel hierfür wäre die Klimapolitik. Wenn vielleicht auch nicht offiziell koordiniert, agieren aber doch heute schon viele Staaten mit einem gleichgerichteten Ziel. Gerade hier kann auch der Kapitalmarkt über das Einfordern ESG-konformen beziehungsweise nachhaltigen Handelns von Unternehmern viel Druck aufbauen.

Neben Ihrer Tätigkeit als Chefvolkswirt sind Sie auch Lehrbeauftragter an der International School of Management in Hamburg. Was gibt Ihnen die Lehrtätigkeit?
Die Interaktion mit jungen Menschen macht mir unheimlich viel Spaß. Gerade kapitalmarktrelevante Themen zu vermitteln, ist mir eine Herzensangelegenheit. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese in der Schule zu kurz kommen. Gleichzeitig müssen aber gerade Jüngere immer stärker für ihre eigene Absicherung im Alter vorsorgen. Wie soll das gehen, wenn grundsätzliches Knowhow fehlt? Wenn man bei Risiko nicht an Volatilität und den Umgang damit denkt, sondern an den möglichen Totalverlust und entsprechend auf die vermeintlich sichere Kontoanlage setzt? Aus dem Dialog an der Hochschule kann ich aber auch für meine tägliche Arbeit und die Kapitalmarktanalysen einiges ziehen. Es entstehen immer wieder neue Aspekte und Ansichten, die man vorher vielleicht noch nicht im Blick hatte.

Gibt es eine Börsenlegende, die Sie besonders inspiriert?
Ich verfolge einige Kapitalmarktexperten relativ eng. Einer davon ist Mohammed El Erian, der vor allem volkswirtschaftliche Indikatoren und Kapitalmarktentwicklungen oftmals anders interpretiert. Damit meine ich, dass er über den Mainstream hinausdenkt und so wertvolle Erkenntnisse ermöglicht. Der allgemeine Konsens, also die verbreitete Marktmeinung liegt nämlich oftmals falsch. Zudem lese ich gern Veröffentlichungen von Ray Dalio, der sehr grundsätzliche und langfristige Denkansätze verfolgt, die auch gesellschaftliche oder politische Entwicklungen mit einbeziehen.

Wenn Sie an der Finanzwelt etwas ändern könnte, was wäre das?
Das ist tatsächlich eine schwere Frage. Die Börsen funktionieren eben genauso, wie wir sie kennen. Das grundlegende Prinzip ist jahrhundertealt und bewährt: Angebot und Nachfrage, Erwartungen und Enttäuschungen, Panik und Gier. Es wäre sicher wünschenswert, wenn sich negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft und auf unbeteiligte Menschen wie etwa in der Krise 2008/2009 vermeiden ließen. Das ist aber nicht so einfach. Es ist ein stetiges Hin und Her zwischen freiem Markt und Regulierung. Wenn ich aktuell etwas ändern könnte, würde ich mir ein normales Zinsumfeld wünschen. Ich fürchte, dass die Notenbanken sich mit der jahrelangen ultra-expansiven Geldpolitik in eine Ecke manövriert haben, aus der sie sobald nicht wieder herauskommen.

Wie haben Sie als Kind den Umgang mit Geld gelernt?
Mein erstes Geld habe ich mit Gartenarbeit bei meinen Großeltern verdient, später dann auf dem benachbarten Bauernhof. Das Haushalten damit haben mir meine Eltern beigebracht, die immer kostenbewusst waren, sich und ihren Kindern aber auch etwas gegönnt und vor allem zukunftsgerichtet in den Betrieb investiert haben.

Sie sind beruflich sicher sehr eingespannt. Wo finden Sie den Ausgleich zur Arbeit?
Bei meiner Familie, im Garten und beim Joggen. Letztlich habe ich aber mein privates Interesse zu meinem Beruf gemacht. Daher lese ich auch gern Bücher mit volkswirtschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Hintergründen.

Wie würden Sie einen Tag völlig ohne berufliche Verpflichtungen verbringen und wen würden Sie mitnehmen?
Mitnehmen würde ich natürlich meine Tochter und meine Frau. An freien Tagen unternehmen wir gern einen Ausflug an die Elbe, in einen Tierpark oder wir fahren an die Nord- oder Ostsee. Hamburg hat dafür einen klaren Standortvorteil. Es gibt viele abwechslungsreiche Ziele in der näheren Umgebung.

Im Urlaub verschlägt es Sie gerne nach Norwegen. Was fasziniert Sie an dem Land besonders?
Alles! Landschaftlich ist Norwegen unglaublich reizvoll und abwechslungsreich, die lange zerklüftete Küste, die Fjorde, die Lofoten oder auch die liebliche Landschaft im Süden. Je weiter man in den Norden reist, umso schroffer wird die Umgebung. Ich mag auch die Sprache und den Menschenschlag. Und dann ist da auch die sofortige Entschleunigung, sobald man im Land ist - das geht zumindest mir so.

Sie sind sehr Handball-begeistert. Trifft man Sie eher auf den Zuschauerrängen an, oder stehen Sie auch selbst auf dem Platz?
Früher auch aktiv im Tor, heute nur noch als Zuschauer. Der Sport fasziniert mich aber nach wie vor. Er ist sehr schnell und athletisch, taktisch anspruchsvoll, oft hoch emotional und ein Handballspiel kann fast nicht langweilig werden.

Was würden Sie Ihrem 18-jährigen Ich aus heutiger Sicht raten?
Vielleicht: "Nicht lang nachdenken, einfach machen" oder "Es gibt nichts Gutes außer man tut es". Ich war in meinen jungen Jahren eher zurückhaltend und hätte durch ein etwas forscheres Auftreten vielleicht das ein oder andere Ziel schneller erreichen können. Aber ich bin ganz zufrieden, es hat sich auch so alles gut ergeben…

Gibt es eine Band deren Musik Sie seit Ihrer Jugend bis heute begleitet?
Klaus & Klaus: an der Nordseeküste. Nein, im Ernst, ich war nie der ganz große Fan einer bestimmten Band. Ich mag Musik, bin aber kaum festgelegt.