Einen "Business-Hippie" nannte ihn das "Manager Magazin". Der stets tiefenentspannte und lächelnde 77-jährige Luiz Seabra mag zwar das Charisma eines Gurus haben, aber gleichzeitig beweist er großes Geschick als Manager und Investor: Er setzte rechtzeitig auf den Trend zu nachhaltig hergestellten Kosmetikprodukten. Seine Firma Natura hat damit in ganz Lateinamerika Erfolg. Er treibt seine globale Expansion mit aller Macht voran und hat für rund zwei Milliarden Dollar, per Aktientausch, den Konkurrenten Avon aus London übernommen. Beide Konzerne hatten sich seit Jahren in Brasilien, ihrem weltweit wichtigsten Markt, bekämpft. Natura hatte 2013 bereits die australische Hautpflegemarke Aesop und 2017 für rund eine Milliarde Euro die britische Kosmetikkette The Body Shop übernommen. Dank Avon ist Natura jetzt der nach Umsatz neuntgrößte Kosmetik- und Hautpflegekonzern weltweit.

Seabra ist Chef und größter Anteilseigner des Konzerns. Der medienscheue Guru ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er wohnt in London, besitzt aber auch ein Appartement am Pariser Seine-­Ufer. Er verließ bereits mit 15 die Schule und arbeitete anschließend für die brasilianische Filiale von Remington Rand, einem amerikanischen Hersteller von Schreibmaschinen. Zwar stieg er rasch die Karriereleiter hoch, aber seinen Job in der Anonymität eines multinationalen Großkonzerns empfand er als unbefriedigend und bedrückend.

Als er 27 war, bot man ihm eine Managementstelle bei Pierre Berjeaut an, einem bekannten Produzenten von Schönheitsprodukten. Er nahm das Angebot an. Das Thema Kosmetik faszinierte ihn. 1969 machte er sich mit seiner Cashreserve von 9000 Dollar selbstständig. Er mietete einen kleinen Laden an der noblen Rua Oscar Freire in São Paulo und gründete die Firma Natura. Zusammen mit vier Angestellten beriet er seine Kundinnen persönlich über die Verwendung seiner Cremes und Lotionen, die alle auf pflanzlichen Zutaten aus dem Amazonas-Regenwald basierten.

Zunächst aber war Natura kein Erfolg. "Das waren schwierige Jahre", erinnerte sich Luiz Seabra später. Doch er gab nicht auf. 1974 änderten Seabra und seine Partner ihre Verkaufsstrategie. Statt auf den Einzelhandel setzten sie auf Direktmarketing: Freiberufliche Beraterinnen sollten die Kosmetika und Pflegeartikel von Natura direkt bei den Kundinnen verkaufen. Das bedeutete: Sekretärinnen, Hausangestellte oder Studentinnen boten nun an ihrem Arbeitsplatz, im Klub, an der Universität oder am Strand die Produkte von Natura an, dort also, wo kommerzielle Anbieter nicht so einfach hinkamen.

Rund 70 Prozent der Produkte wurden auf diese Weise verkauft. "Das Unternehmen kopierte so das Vertriebsmodell der Businessikone Avon, das den ursprünglich nordamerikanischen Konzern durch sein Heer an ‚Avon-Ladies‘ seit seiner Gründung 1886 bekannt gemacht hatte", schrieb das "Handelsblatt". "Die Produkte gibt es nicht in Läden zu kaufen. Das spart den Vertrieb."

Das Modell funktionierte. 1986 hatte Natura bereits 16 000 Beraterinnen, die Umsätze wuchsen im Schnitt um 40 Prozent pro Jahr, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Brasilien, die auf eine Kombination aus externer Schuldenkrise, hoher Inflation und Massenabwanderung der ausländischen Unternehmen zurückzuführen war.

Im Gegensatz zu der im Jugendwahn gefangenen Beautyindustrie, deren Werbung Models im Teenageralter dominierten, setzte Natura auf die Zusammenarbeit mit "älteren" Frauen. Sogar in den berüchtigten Favelas von Rio de Janeiro war Natura aktiv. Im Complexo do Alemao, dem gefährlichsten Elendsviertel Rios, wo sich der Drogenhandel konzentriert und die Narco-Gangs sich blutige Gefechte liefern, startete Natura ein Projekt, das auf dem System der Mikrokredite beruhte. Es bot verschuldeten Frauen die Chance, als Verkaufsberaterinnen zu arbeiten und so ihre Familien zu unterstützen.

Die Rezession der Jahre 1998 und 1999 ging indes nicht spurlos an Natura vorbei. Die Umsätze und Gewinne gingen zurück, die Zahl der Mitarbeiterinnen schrumpfte um zehn Prozent. Aber dann startete Natura im Jahr 2000 seine Ekos-Linie mit neuen Produkten wie Shampoos, feuchtigkeitsspendenden Ölen oder Parfums. Sie basierte ausschließlich auf natürlichen Produkten - exotischen Früchten, Wurzeln oder Nüssen - aus dem Amazonas. Die indianische Bevölkerung wurde nicht nur für ihr traditionelles Wissen entlohnt, sondern auch im schonenden Abbau der Öle und natürlichen Essenzen aus dem Regenwald geschult, um das fragile Ökosystem des Amazonas zu schützen. Obwohl Natura wie eine ganz normale multinationale Firma auftritt, ist es doch in gewissen Bereichen ein höchst ungewöhnliches Unternehmen, das die Philosophie seines Gründers widerspiegelt. Seabra hat sich viele Jahre mit den Lehren des Psychologiepioniers Carl Gustav Jung beschäftigt und teilt dessen Interesse für die Mythologie.

2004 wurde Natura an São Paulos Neuem Markt gelistet. Damals stand die Firma mit 870 Millionen Dollar Umsatz auf Platz 31 im globalen Branchenranking, vor allem dank rasanten Wachstumsraten von mehr als 30 Prozent pro Jahr und fast ausschließlich getragen vom boomenden Heimatmarkt. Innerhalb von zwei Jahren stieg der Preis der Natura-Aktie um 200 Prozent.

Stolz ist Luiz Seabra darauf, dass Natura als erste Aktiengesellschaft weltweit als "B Corporation" mit sozialer und ökologischer Verantwortung zertifiziert wurde. Seit den 80er-Jahren werden Verpackungen nachgefüllt und recycelt. Eine "Ökopark" getaufte neue Produktionsanlage im Amazonas-Gebiet ist als "industrielle Symbiose" mit der Natur angelegt. Rund drei Prozent des Gewinns investiert die Firma in Forschung und Entwicklung, Natura wurde vom Magazin "Forbes" in die Liste der zehn innovativsten Gesellschaften der Welt aufgenommen.

"Verglichen mit den sonnigen Jahren unter dem linken Präsidenten Lula, als sich die Kaufkraft im Land vervielfachte und Ökounternehmertum dem Zeitgeist entsprach, gibt es in Brasilien nach dem scharfen Rechtsruck für einen wie Luiz Seabra auch nicht viel zu hoffen", prophezeit das "Manager Magazin". "Waffengewalt und Hass zerstören den von ihm beschworenen ‚Zusammenhalt‘, den Regenwald bewahren zu wollen gilt inzwischen als Landesverrat." Kein Wunder also, dass Natura nun das Heil in der internationalen Expansion sucht.