Börse Online: Die EZB hat die Inflationserwartungen deutlich hochgeschraubt, die angekündigte Zinsanhebung im Juli fällt mit 0,25 Prozent aber relativ klein aus. Hätte die Zinsanpassung nicht deutlicher und konsequenter ausfallen müssen?

Jörg Krämer: Ja, ich verstehe nicht, auf was die EZB wartet. Die Inflation liegt bei 8,1 Prozent, die Löhne beginnen schneller zu steigen, und die Inflationserwartungen der Bürger ziehen an. Ich hätte mir gewünscht, dass die EZB ihren Leitzins bereits heute um einen halben Prozentpunkt anhebt. Die hohen Inflationsrisiken erfordern ein entschiedenes Gegensteuern.

Börse Online: Rechnen Sie in der Folge jetzt mit größeren Zinsschritten und einem länger andauernden Erholungszyklus?

Krämer: Die EZB dürfte ihre Leitzinsen auf jeder der kommenden sieben Sitzungen erhöhen, wobei wir für September einen Zinsschritt um 0,5 Prozentpunkte erwarten. Im Mai nächsten Jahres läge der Einlagensatz dann bei 1,5 Prozent. Dann befände er sich in einem Bereich, den die EZB-Ratsmitglieder wohl als neutral einstufen. Die EZB würde dann erst einmal pausieren, zumal die Inflation im kommenden Jahr vorübergehend sinken dürfte, weil der Ölpreis nicht weiter so schnell steigen wird wie in diesem Jahr.

Börse Online: Kann die EZB das Inflationsszenario überhaupt noch in den Griff bekommen?

Krämer: Noch ist es nicht zu spät. Wenn die EZB die Zinsen jetzt rasch und deutlich anhebt, sehen die Menschen, dass die EZB für eine wieder niedrige Inflation kämpft. Dann senken sie ihre Inflationserwartungen, wodurch die tatsächliche Inflation später zurückgehen wird.

Börse Online: Was bedeutet diese moderate/zögerliche Geldpolitik vor dem Hintergrund der hohen Inflationsraten für die Börsen?

Krämer: Kurzfristig liebt die Börse das billige Geld, weshalb sich Aktienanleger vor steigenden Zinsen fürchten. Aber längerfristig bremsen höhere Leitzinsen die Inflation, wovon Aktien über sinkende Anleiherenditen und mehr volkswirtschaftliche Stabilität am Ende wieder profitieren.

ehr