von Dirk Elsner

Im Finanzsektor gehört der Begriff "Digitalisierung" sicher zu den Buzzwords des Jahres 2015. Das liegt nicht daran, dass die Geschäftsmodelle der Banken aus dem analogen Tiefschlaf erwacht sind. Wenn sich Kunden die eigene Nutzung von Bankdienstleistungen im abgelaufenen Jahr ansehen, dann werden wohl 95% feststellen, dass sich die präsentierten und oft ohnehin online angebotenen Leistungen nicht substantiell vom Vorjahr unterscheiden.

Was sich verändert hat - und bereits 2014 abzusehen war - ist die Bewusstseinsbildung zum digitalen Wandel in Banken. Das Thema ist zum Mainstream geworden. Wenn der digitale Wandel überhaupt beachtet wurde, dann sah man vor allem seine Risiken. Das hat sich gedreht. Mittlerweile stehen die Chancen im Fokus und damit die wohl notwendige und komplette Runderneuerung des Finanzsystems auf ein neues technisches und kulturelles Fundament. Aus einem vorsichtigen Herantasten ist eine breite Bewegung geworden. Die Digitalisierung ist in vielen Häusern in den Chefetagen angekommen. Und sogar der Bundestag hat sich 2015 mit der Digitalisierung des Finanzsektors befasst.

Interessant ist dabei, dass der Digitalisierungs-Begriff in etwa genauso unscharf verwendet wird, wie das Wort des Jahres 1995: "Multimedia". Nimmt man etwa die Definition, die Wikipedia anbietet, dann ist Digitalisierung im Finanzsektor ein abgewetzter Hut. Die Autoren des Weltlexikons bezeichnen als Digitalisierung die Überführung analoger Größen in diskrete (abgestufte) Werte, zu dem Zweck, sie elektronisch zu speichern oder zu verarbeiten. So verstanden war man in Finanzinstituten bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts digitalisiert, denn schon mit Lochkarten wurden analoge in maschinenlesbare Werte übertragen.

Eine solche mechanische Definition von "Digitalisierung" eignet sich freilich nicht dazu, zu verstehen, was heute in- und außerhalb der Finanzwelt passiert. Es geht in der Praxis gar nicht allein darum, analoge Informationen in Einsen und Nullen zu wandeln. Die oft vom Marketing von Lösungsanbietern und Beratern getriebenen Narrative der Digitalisierung erzählen uns von digital weit verteilten Informationen, die in immer kürzeren Zeitabständen (idealerweise in Echtzeit und sensorgestützt) aufgenommen, ausgewertet, angereichert, "intelligent" vernetzt und immer stärker automatisiert weiterverarbeitet werden. Die Digitalisierung verändert bestehende Produkte und Dienstleistungen, macht sie schneller und leichter verfügbar und senkt dabei oft sogar deutlich die Grenzkosten (Jeremy Rifkin). Dabei werden Produkte und Dienstleistungen stärker individualisiert und Kunden und Geschäftspartner werden Teil der Wertschöpfungsprozesse.

Auf Seite 2: Digitalisierung auf drei Ebenen





Für Bankgeschäfte spielt sich die Digitalisierung auf mindestens drei Ebenen ab. Im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und auch dieser Kolumne steht meist die Verbesserung von Finanzdienstleistungen für die Privatkunden (Retailgeschäft). Dabei geht es etwa um bequemere und schneller Bezahlmethoden, neue Formen von Krediten oder automatisierte Anlageberatung.

Wirtschaftlich bedeutsamer dürfte aber das kommerzielle Geschäft mit Firmenkunden sein. Hier geht es um die Optimierung internationaler Zahlungsströme, das Informationsmanagement für Finanzdienstleistungen und das nahtlose Einbetten von Finanzprodukten in eigene Dienstleistungen von Unternehmen. Das Frankfurter Unternehmen Traxpay reichert etwa den "üblichen" Zahlungsverkehr der Banken um Daten an, die im Rahmen der Optimierung von Unternehmensprozessen eine fortschreitende Automatisierung der Abläufe ermöglichen.

Für Banken noch wichtiger wird aber die "Digitalisierung" im Backoffice werden. Hier steht die Branche erst ganz am Anfang einer Entwicklung, die hinter den Kulissen von Finanzhäusern vielleicht zu den umfassendsten Veränderungen führen wird. In der Fachwelt wird dazu vor allem das Blockchain-Konzept heiß diskutiert. Die aus der Kryptowährung Bitcoin bekannte Technologie gilt vielen als Blaupause für einen noch zu etablierenden Standard für die digitale Übertragung vertrauenswürdiger Rechte, die bisher z.B. in Banknoten, Wertpapieren, Verträgen oder anderen Urkunden verbrieft sind. Mit Hilfe kryptographischer Verfahren sollen die digital verbriefte Rechte eindeutig einem Inhaber zugeordnet und rechtssicher übertragen werden können. Technisch handelt es sich bei der Blockchain um eine Buchungsdatei, mit der alle Transaktionen eines speziellen digitalen Guts eindeutig und angeblich fälschungssicher dokumentiert werden können.

Manche Kritiker aus der Bitcoin Ecke glauben, dass die Banken die private Blockchain nicht richtig verstehen. Diese Kritik bleibt aber vergleichsweise unscharf, wohl auch deswegen weil viele Banken zwar viel Aufwand in die Erforschung der Blockchain stecken, aber wenig über konkrete Anwendungsprototypen veröffentlichen. Das wird sich 2016 ändern. Viele Banken und Dienstleister haben nämlich erkannt, dass sich das Potenzial dieser Technologie erst in der Zusammenarbeit mit möglichst vielen anderen Banken entfalten kann.

Auf Seite 3: Digitalisierung kann die Fragilität von Leistungen erhöhen





Digitalisierung wird aber mittlerweile leider auch zu einer Leerformel überhöht, mit der vor allem Dienstleistungen und Produkte verkauft werden sollen. "Wenn es um die vernetzte Ökonomie geht, wimmelt es von Allgemeinplätzen, Phrasen und Floskeln", kritisierte Gunnar Sohn für The European und ergänzt, vieles sei alter Wein in neuen Schläuchen. Längst nicht alles, was mit dem Etikett "digital" versehen wird, ist gleichbedeutend mit effizienter, günstiger, bequemer.

Gern vergessen wir, dass Digitalisierung die Fragilität von Leistungen erhöhen kann. Ich habe noch erlebt, wie von einem "analogen Sparbuch" Geld ganz ohne Technik ausgezahlt werden konnte. Der Angestellte am Schalter hat, wenn die Computer nicht liefen, einfach den Betrag per Hand eingetragen und das Geld übergeben. Mit heutigen digitalen Konten ist man z.B. für Zahlungstransaktionen darauf angewiesen, neben Strom und funktionierender Soft- und Hardware auf verschiedensten Systemen auch über eine ausreichend stabile Internetverbindung zu verfügen. Stört nur ein kleiner Fehler ein Glied in dieser langen technischen Kette, dann sind Leistungen nicht durchführbar.

Nassim Taleb würde vermutlich schreiben, dass Digitalisierung die Fragilität von Finanzdienstleistungen erhöht. Wir werden hier also noch viel über neue Risiken lernen müssen. Während manche Wissenschaftler bereits von einer neuen Superintelligenz durch Technik träumen (so z.B. Nick Bostrom), erwarten andere, wie Andrew Keen, das digitale Debakel. Die Realität wird sich vermutlich zwischen diesen Extrempositionen einpendeln.

Dirk Elsner ist bei der DZ Bank Senior Manager Innovation und Digitalisierung.