Dirk Roßmann kam 1946 im vom Krieg stark zerstörten Hannover zur Welt. Die Eltern betrieben in der Stadt eine 20 Quadratmeter große Drogerie. "Ich bin zwischen Trümmern aufgewachsen. Meine Eltern waren nicht heiter und zuversichtlich - die Verhältnisse waren unendlich schwer", erinnerte sich Roßmann später.

Der schmächtige, sensible Junge besuchte erst die Mittelschule. "Aber meine Lehrer meinten, ich sei geistig überfordert, sodass sie meine Mutter davon überzeugten, mich auf die Volksschule zu schicken", erzählte er in einem Interview mit der "Zeit". "Zugegeben, ich war auch etwas unstet. Durch Zufall fand ich damals ein Buch von Arthur Schopenhauer. Ich wusste, wenn ich diesen großen Philosophen verstehe, muss ich mir um meine Intelligenz keine Sorgen machen."

Als Dirk zwölf Jahre alt war, starb sein Vater. Erst später erfuhr er, dass es nicht sein leiblicher Vater war. Die Mutter musste nun die Drogerie allein weiterführen. "Wir waren bettelarm, lebten in allerkleinsten Verhältnissen." Bereits früh zeigte Roßmann unternehmerisches Geschick. "Schon als Steppke mit 13, 14 Jahren hatte ich den Einfall, Waren aus unserer Drogerie mit dem Fahrrad zu verteilen und zu verkaufen - die zehn Prozent Marge durfte ich behalten. Da habe ich bestimmt 700 Mark im Monat verdient."

Die Schule ödete ihn an. Sie bestand für ihn aus Zucht, Ordnung und Langeweile. Für ein Studium, wie es der zwei Jahre ältere Bruder Axel absolvierte, fehlte das Geld und auch das Interesse. Nach der Grundschule machte Roßmann eine Drogistenlehre und arbeitete ab 1962 zunächst in der elterlichen Drogerie.

Mit 18 Jahren wurde er zur Bundeswehr eingezogen, obwohl er gegen den Einberufungsbescheid geklagt hatte. "Mein Vater war tot, meine Mutter krank, mein Bruder studierte, und ich musste allein die Familie und die Großeltern ernähren." Er verweigerte in der Kaserne den Dienst und kletterte zum Zeichen des Protests in der Ausgehuniform auf eine 20 Meter hohe Eiche auf dem Bundeswehrgelände. Er stieg erst herunter, als absehbar war, dass man ihn nicht weiter behelligen würde.

Es war seine erste große Bewährungsprobe. "Für mein Selbstbewusstsein war dieser Kampf extrem wichtig gewesen, so hatte ich mir bewiesen: Ich kann mich durchsetzen, wenn ich es will", schrieb er in seiner Biografie.

Als die sozialliberale Bundesregierung zu Beginn der 70er-Jahre beschloss, die Preisbindung für Drogeriewaren abzuschaffen, erkannte Roßmann seine große Chance: Selbstbedienungsläden existierten damals im Einzelhandel nur für Lebensmittel, nicht aber für Drogerieartikel. "Hohe Umsätze, die erzielte man nicht durch den herkömmlichen Verkauf über den Tresen. ‚Selbstbedienung‘ war das Zauberwort. Ich beschloss, einen eigenen Laden zu eröffnen. Einen, der ganz anders und etwas völlig Neues sein sollte."

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Das Geschäft des Lebens


Der 25-Jährige mietete ein ­Ladenlokal mit 120 Quadratmetern Verkaufsfläche und eröffnete am 17. März 1972 den "Markt für Drogeriewaren". Er lag neben einem Bestattungsunternehmen und war die erste Selbstbedienungsdrogerie deutschlandweit. Roßmann hatte in der Stadt rund 20 000 selbst gefertigte Flugblätter verteilt und hoffte, einen Monatsumsatz von 40 000 Mark zu erreichen. Am Morgen vor der Ladenöffnung drängten sich etwa 1000 Menschen auf dem Platz vor dem Geschäft. Die Polizei musste für Ordnung sorgen, aber die Kundschaft kaufte wie verrückt: "Bereits gegen Mittag wusste ich, dass ich das Geschäft meines Lebens machte." Der Kassensturz am Ende des Tages ergab 20 000 Mark - das halbe Monatsziel war erreicht. "Wir schwammen in Geld, konnten unser Glück kaum fassen, sind in den Keller gegangen, haben das Geld in die Luft geworfen. Wie in einer Filmszene", schrieb er in seiner Biografie.

Roßmanns Werbekampagnen brachten ihn immer wieder in die Schlagzeilen. Wenige Monate nach der Ladeneröffnung warb er zum Beispiel mit dem Slogan: "Rossmann nimmt Ihre Zahnbürste in Zahlung! Wenn Sie eine neue kaufen, geben wir Ihnen eine Mark für Ihre alte Zahnbürste". Vor dem Beginn der Aktion hatte er noch schnell die Preise für Zahnbürsten erhöht. Roßmann: "Die Kunden rannten uns wirklich die Bude ein. Am Abend türmten sich mehrere Tausend Zahnbürsten im Laden, einige Kunden hatten sogar ihre Gebisse in Zahlung gegeben."

Als er 30 war, zerbrach seine erste Ehe. Roßmann begann eine Therapie, die zehn Jahre dauern sollte. Er lernte, sich mit seinen Schwächen auseinanderzusetzen. Die Therapie habe ihm auch geholfen, ein besserer Chef zu werden, einer, der Rückgrat zeigt, offen, ehrlich und authentisch ist. Der Unternehmer ist ein großer Fan von Psychologie und Therapien.

Erfolg und Misserfolg


Zu Beginn der 80er-Jahre gehörten Roßmann bereits mehr als 100 Drogeriemärkte. Eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte. Er hätte im Traum nicht daran gedacht, dass aus seinem bescheidenen Laden einmal ein Businessimperium werden würde, gab er zu.

Seinen größten Kampf hatte Roßmann in den 90er-Jahren zu bestehen. "Wir sind damals stark expandiert, hatten viele Bankschulden, ich spekulierte an der Börse. Meine innere Ruhe blieb dabei auf der Strecke." 1996 stand das Unternehmen vor dem Konkurs: "Wir haben in einem einzigen Jahr zwölf Millionen Mark Verlust gemacht". Rossmann erlitt einen Herzinfarkt. "Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben", gestand er. "Unglaublich, dass danach doch wieder alles gut wurde und ich heute sehr zufrieden und dankbar sein kann."

Aktuell umfasst sein Unternehmen knapp 4000 Filialen mit 54 500 Mitarbeitern in sechs europäischen Ländern. Der Umsatz belief sich 2017 auf neun Milliarden Euro. Im Schriftzug der mit "ss" geschriebenen Drogeriekette spiegelt sich das Wahrzeichen des Unternehmens: ein Zentaur, das Fabelwesen aus der griechischen Sagenwelt. Roßmann, der sich gern als "Freund des kleinen Mannes" bezeichnet, pflegt einen unspektakulären Life­style. Er besitzt weder einen Privatjet noch eine Villa an der Côte d’Azur. Er benutzt ein altes Handy, hat noch nie eine SMS geschrieben, besitzt keine Uhr, keinen Laptop. Auch legt er wenig Wert auf edle Kleidung, trägt ungern Krawatten. Stattdessen spendet er viel Geld für Kinder in Afrika.