Boerse-online.de: Mit Siemens, Telekom, Daimler Truck und RWE haben weitere DAX-Konzerne ihre Zahlen vorgelegt. Die Berichtssaison im DAX ist damit weitgehend durch. Wie lautet Ihr Resümee?

Sven Streibel: Die Berichtssaison in Europa und auch im DAX ist bisher besser als erwartet gelaufen über nahezu alle Sektoren hinweg, gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Konjunkturrisiken, und gerade auch für die konjunktursensiblen Sektoren.

Zum Beispiel?

Das betrifft beispielsweise Autohersteller. Die Ausblicke waren hier schon übers Jahr weg vorsichtig wegen der Risiken wie Lieferproblemen, Materialmangel oder Absatzschwierigkeiten. Die Konzentration auf hochmargige Segmente hat hier die Gewinne jedoch teils kräftig gesteigert. Prall gefüllte Auftragsbücher und eine verbesserte Verfügbarkeit von Halbleitern dürften für eine weitere Erholung sorgen.

Wer hat noch besonders positiv überrascht?

Auch die europäischen Banken haben besser als erwartet abgeschlossen. Hier trugen höhere Zinserträge und Handelsergebnisse bei. Alles in allem lief die Berichtssaison in Europa und speziell im konjunktursensiblen DAX bisher besser als erwartet, deshalb hat es zuletzt auch Kursgewinne gegeben.

Aufgrund der hohen Inflation und hoher Kosten, anhaltender Lieferengpässe und nicht zuletzt eines möglichen Gasslieferstopps der Russen gibt es ein hohes Rezessionsrisiko im zweiten Halbjahr. Sind die Prognosen der Konzerne nicht zu optimistisch, bzw. droht eine Welle von Gewinnkorrekturen?

Ich habe das mal durchgerechnet: Die Marktteilnehmer erwarten derzeit niedrigere Gewinne als die veröffentlichten Analystenerwartungen. Sprich die in den aktuellen Kursen eingepreisten Gewinnerwartungen für 2022 bis 2024 liegen etwa für die sehr konjunktursensiblen Bereiche Grundstoffe und Energie bis zu 20 Prozent unter denen des Analystenkonsens. Das heißt: Die Aktieninvestoren unterstellen, dass die Analysten derzeit noch zu optimistisch sind und ihre Schätzungen weiter nach unten revidieren werden. Der Markt preist diese Gewinnkorrekturen jetzt ein, das führt aktuell zu Turbulenzen an den Börsen.

Und wenn die Analysten dann ihre Prognosen tatsächlich nach unten korrigieren?

Wenn der Analystenkonsens dann offiziell nachzieht, sollten die Kursreaktionen milder ausfallen. Das heißt: Derzeit haben wir aufgrund des immer noch unsicheren wirtschaftlichen Umfeldes noch keine "echten" Kaufkurse, aber mittelfristig, etwa bis Jahresende, schon. Unser Kursziel für den DAX am Jahresende liegt bei 14500 Punkten. Eine Aufhellung der aktuell doch sehr trüben Stimmung ist bis dahin wahrscheinlich.

Müssen sich die DAX-Konzerne nicht noch stärker auf steigende Inflationsraten und zunehmende Kostenproblematik einstellen?

Wir haben es hier mit weltweiten Großunternehmen zu tun, die aufgrund ihre Markenstärke eigentlich alle eine gewisse Preissetzungsmacht besitzen. Sie können nicht nur erhöhte Kosten an Kunden weitergeben, sondern zählen zu den Inflationsgewinnern. Dies wird durch die überwiegend positiven Überraschungen in der Berichtssaison auch belegt. Höhere Verkaufspreise können aber einen Nachfragerückgang bei einer Konjunkturverlangsamung nicht unendlich kompensieren. Gewinnerwartungen müssen daher zurückgeschraubt werden.