Die jüngste Zinssitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) am 21. Juli markiert eine historische Zäsur: Zum ersten Mal seit elf Jahren haben die europäischen Währungshüter die Zinsen wieder angehoben - und das mit einem unerwartet kräftigen Schritt von 0,5 Prozentpunkten. Ursprünglich hatten die Euro-Wächter um Präsidentin Christine Lagarde nur 0,25 Prozent angepeilt. Doch die Inflation im Euroraum war bereits im Juni auf das Rekordniveau von 8,6 Prozent geklettert und im Juli sogar auf 8,9 Prozent. "Diese Zinsanhebung der EZB war richtig und wichtig", sagt Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts, im Interview mit BÖRSE ONLINE. Gleichzeitig kritisiert er, dass die EZB künftig hochverschuldeten Ländern wie Italien mit einem neuen Anleihekaufprogramm zu Hilfe eilen will, denen das steigende Zinsniveau zu schaffen macht. Die EZB greife in einen funktionierenden Markt ein, laufe Gefahr, die Grenze zur Staatsfinanzierung zu überschreiten.

BÖRSE ONLINE: Die EZB hat sich auf ihrer jüngsten Sitzung zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen und deutete weitere größere Zinsanhebungen an. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass hochverschuldete EU-Länder wie Italien jetzt durch den starken Zinsanstieg ins Schleudern oder sogar in eine Staatsschuldenkrise geraten könnten?

Clemens Fuest: Da die ausstehenden italienischen Staatsanleihen eine Laufzeit von durchschnittlich sieben Jahren haben, wird es dauern, bevor die höheren Zinsen voll auf die Staatsfinanzen durchschlagen. Hinzu kommt, dass die hohe Inflation gleichzeitig die Steuereinnahmen eher in die Höhe treibt und auch den realen Wert der Staatsschulden entwertet.

Tickt mit den steigenden Zinsen nicht dennoch eine gefährliche Zeitbombe bei der italienischen Staatsverschuldung?

Wichtiger ist tatsächlich, wie die längerfristigen Wachstumsaussichten Italiens eingeschätzt werden und ob die Investoren an den Finanzmärkten der italienischen Politik trauen und erwarten, dass die sehr hohe Schuldenquote gesenkt wird. Wenn dieses Vertrauen fehlt, wird es schwierig.

Die EZB hat auf ihrer Juli-Sitzung ein Krisen-Anleihekaufprogramm beschlossen, mit dem hochverschuldeten Ländern wie Italien bei Turbulenzen am Anleihemarkt geholfen werden soll. Das "Transmission Projection Instrument" (TPI) soll ein Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten von EU-Staaten verhindern. Sie kritisieren das Programm. Warum halten Sie es für riskant?

Zinsdifferenzen gehören zu einem funktionierenden Kapitalmarkt, weil sie unterschiedliche Niveaus von Risiken widerspiegeln und private Investoren überzeugt werden müssen, diese Risiken einzugehen. Die EZB läuft Gefahr, die Grenze zur Staatsfinanzierung zu überschreiten, ihre Unabhängigkeit zu gefährden und für die Finanz- und Wirtschaftspolitik falsche Anreize zu setzen.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde beteuert, man werde genau bewerten, ob ein Land am TPI teilnehmen darf. Insbesondere sei eine Teilnahme an eine solide und nachhaltige Finanzpolitik des jeweiligen Landes geknüpft. Sind das nicht vergleichbare Kriterien wie beim Anleihekaufprogramm OMT aus der Finanzkrise?

Die von der EZB definierten Bedingungen, die ein Land für eine Teilnahme erfüllen muss, sind deutlich schwächer als beim in der Eurokrise eingeführten Anleihekaufprogramm OMT. Anders als dort hat sich die EZB auch an keinerlei Entschluss anderer Institutionen gebunden und könnte deshalb unter massiven Druck geraten, einzelne Mitgliedsstaaten zu unterstützen.

Zur EZB-Zinsanhebung selbst: Der Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten ist überraschend kräftig ausgefallen. Inwieweit sehen Sie die EZB jetzt auf einer Linie, das Inflationsproblem tatsächlich in den Griff zu bekommen?

Der Schritt war richtig und wichtig, die EZB hat damit signalisiert, dass sie entschlossen ist, zumindest die Normalisierung der Geldpolitik, also den Ausstieg aus Anleihekäufen und Negativzinsen, fortzusetzen.

Ist damit das Ende der Negativzinspolitik besiegelt?

Man kann nicht ausschließen, dass es künftig wieder Situationen mit niedriger Inflation gibt, in denen die EZB wieder Negativzinsen einführt. Vorerst ist die Ära der Negativzinsen beendet. Man sollte allerdings bedenken, dass das nur für die nominalen Zinsen gilt. Die Realzinsen sind noch immer tief im negativen Bereich.

Kommt dieser Schritt nicht schon zu spät angesichts der in letzter Zeit kräftig gestiegenen Inflationsraten?

Der Schritt kommt zu spät, aber besser spät als nie.

War die Reihenfolge richtig, zunächst aus den Anleihekäufen auszusteigen und dann aus den Negativzinsen?

Es war sicherlich wichtig, zunächst aus den Anleihekäufen auszusteigen, aber auch das hätte früher passieren müssen.

Ist die EZB mit ihrem Instrumentarium und mit ihrer komplexen Interessenstruktur überhaupt noch in der Lage, die derzeitige Inflation einzudämmen?

Das wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Mit dem Ausstieg aus den Anleihekäufen und der Zinserhöhung hat die EZB sich schon einmal in die richtige Richtung bewegt. Aber das ist erst der Anfang.

Auf welches Niveau müssten die Zinsen steigen, damit die EZB die Konjunktur nicht noch zusätzlich anfacht?

Gerade in der aktuellen, von hoher Unsicherheit geprägten Lage, ist es schwierig abzuschätzen, was das konjunkturneutrale Zinsniveau ist. Klar ist aber, dass es höher liegt als der gegenwärtige Zins. Deshalb spricht die EZB ja auch nicht von einer Straffung der Geldpolitik, sondern von einer Normalisierung. Sie will also nicht auf die Bremse treten, sondern den Fuß vom Gaspedal nehmen.

Inzwischen ist die Konjunktur deutlich abgebremst, der Wirtschaft droht sogar eine Rezession. Müsste die EZB angesichts solcher Tendenzen nicht erneut mit Zinssenkungen gegensteuern?

Wenn die Rezession durch einen Rückgang des Güterangebots verursacht wird, hat es wenig Sinn, wenn die Geldpolitik durch Zinssenkungen die Nachfrage erhöht. Das muss man genau beobachten.