"Denken Sie daran, dass Frankreich Sie liebt!", rief Präsident Emmanuel Macron in seiner Bundestagsrede zum Volkstrauertag im vergangenen Jahr dem Plenum zu. Das emotionale Bekenntnis ließ nicht erkennen, wie stark Macron in diesem Moment zu Hause unter Druck stand: Die "Gilets Jaunes", die Gelbwesten, begannen gerade erst ihre Proteste gegen eine neue Treibstoffabgabe. Einige Monate lang sah es so aus, als ob Frankreich zum neuen Krisenherd in Europa würde und Massendemonstrationen, Streiks und brennende Barrikaden das Land aus den Angeln heben könnten.

Doch die Grande Nation zeigt sich erstaunlich robust. Unsere Experten erwarten, dass Frankreichs Wirtschaft 2020 um 1,3 Prozent wächst. Das liegt deutlich über dem Wachstum der Eurozone in Höhe von 0,8 Prozent sowie von Deutschland mit 0,6 Prozent. Studien attestieren Frankreich Reformbereitschaft und eine steigende Standortqualität. Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Wettbewerbsfähigkeit - gemessen an den Lohnstückkosten - nimmt seit 2012 stetig zu. Deutschland legt zwar auch gute Arbeitsmarktdaten vor, trotzdem erodiert die Wett­be­werbsfähigkeit, der Vorsprung schwindet.

Findet bei unseren Nachbarn ein Mentalitätswandel statt, hin zu mehr unternehmerischer Eigeninitiative? Macron sorgt jedenfalls für frischen Wind. Er genießt offenkundig das Vertrauen der Unternehmen und Finanzmärkte. Das dürfte ihn bewogen haben, trotz des harten Widerstands gegen seine Reformpläne den Kurs im Großen und Ganzen beizubehalten. Doch es gibt weitere Punkte, welche die neue französische Dynamik erklären. Die Wirtschaft unseres Nachbarlandes ist weniger exportabhängig als die deutsche.

Der industrielle Anteil an der Wertschöpfungsleistung liegt hierzulande viel höher als in Frankreich. So sank bei unserem Nachbarn der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung in den vergangenen Jahren auf rund 13 Prozent, in Deutschland stieg er hingegen auf über 25 Prozent. Der Handelskrieg schlägt darum an der Seine viel weniger stark durch.

Auch sind die französischen Unternehmen risikofreudiger geworden. Sie investieren deutlich stärker im In- und Ausland als deutsche Firmen. Sie werden dabei von französischen Großbanken unterstützt, die in einer vergleichsweise guten Verfassung sind und fähig, größere Investitionen weltweit zu begleiten. Französische Unternehmen geben zudem seit einigen Jahren spürbar mehr für Forschung und Entwicklung aus. Die Zahl der Patentanmeldungen legte zuletzt deutlich stärker zu als in Deutschland. Und aufgrund der besseren demografischen Prognosen birgt Frankreich ein höheres Potenzialwachstum als Deutschland.

Frankreichs Unternehmen erzielen bessere Gewinne


Die steigenden Aktienkurse an der Pariser Börse sind also nicht auf Sand gebaut. Die Gewinnentwicklung der Unternehmen sieht derzeit besser aus als jene in Deutschland. Und der Mix ist besser. Es gibt viele defensive, aber wachstumsträchtige Unternehmen aus dem Pharma- oder Konsumgüterbereich, aber auch einige Technologie-Schwergewichte und eine sehr erfolgreiche Luxusgüterindustrie, die vom Wachstum in Asien profitiert.

Im direkten Vergleich mit Deutschland könnte Berlin dank der geringen Staatsverschuldung einen höheren finanziellen Spielraum nutzen, um Unternehmen und Konsumenten zu entlasten und das Wachstum anzukurbeln. Dazu würde auch eine klare Industrie- und Standortpolitik zählen, die auf die nach wie vor starke Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen aufsetzt.

Soll der französische Wachstums­traum weitergehen, sind weitere Reformen nötig. Macrons Chancen auf eine Wiederwahl im Jahr 2022 stehen zwar aktuell gut. Ein Sieg antieuropäisch eingestellter Kandidaten würde jedoch nicht nur die Finanzmärkte verunsichern. Er wäre für den Zusammenhalt und das Wachstum in der EU eine Belastung. Macrons Liebesbekundungen an Deutschland mögen hier nicht nur auf Gegenliebe stoßen. Doch sein Kurs für eine tiefere europäische Inte­gration kommt auch Deutschland zugute.

Kurzvita

Jörg Zeuner
Chefvolkswirt und Leiter Research &
Investment Strategy bei Union Investment

Zeuner studierte Wirtschaftswissenschaften in Glasgow und promovierte an der Universität Würzburg. Er sammelte internationale Berufs­erfahrung bei der Deutsch-Koreanischen Industrie- und Handelskammer, bei der KfW sowie bei der Weltbank in Äthiopien.
Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken und mit einem verwalteten Vermögen von rund 350 Milliarden Euro einer der größten deutschen Vermögensverwalter.