BOERSE-ONLINE.de: 2019 litten die Börsen weltweit unter politischen wie auch wirtschaftlichen Unsicherheiten wie etwa dem Brexit oder dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten stehen 2020 besonders im Fokus?
Dr. Alexander Krüger: Politisch ist es vor allem die Frage, ob der Handelsstreit durch ein Phase-I-Abkommen zwischen den USA und China nachhaltig entspannt wird. Geopolitisch ist es die Frage, wie viele Spannungsfelder noch entstehen. Und weltwirtschaftlich ist die Frage zentral, ob China und die USA mehr als eine moderate Wachstumsabschwächung durchlaufen werden.

Ist eine Entspannung bei den aktuellen Dauerbrennern Brexit und Handelsstreit in Sicht?
Beim Brexit wird das wohl am ehesten der Fall sein. Bei einer erneuten Verschiebung müsste sich die EU jedenfalls fragen lassen, wie lange sie sich von den Briten noch auf der Nase herumtanzen lassen will. Beim globalen Handelsstreit besteht zurzeit die Hoffnung, dass sich China und die USA in ersten strittigen Fragen einigen. Aufgrund der hegemonialen Interessen der USA ist eine vollständige Streitbeilegung jedoch kaum realistisch.

Aus heutiger Sicht: Welche Themen dürften die Börsen 2020 sonst noch beschäftigen?
Aufgrund des voraussichtlich niedrigen nominalen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts wird die hohe globale Verschuldung wohl wieder stärker in den Fokus rücken. Die Schuldenrelationen dürften mehrheitlich jedenfalls steigen - bei privaten Haushalten, Staaten und Unternehmen. Das Ganze ist ein Pulverfass, das geldpolitisch hoffentlich beherrschbar bleibt.

Das schwächelnde Wachstum der chinesischen Wirtschaft bremst die Weltwirtschaft und hemmt damit auch die Aussichten für Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser Entwicklung im nächsten Jahr sein?
Die Abschwächung in China wird sich fortsetzen und das exportabhängige Wachstum hierzulande bremsen. Über indirekte Effekte dürfte die Wirtschaft auch den globalen Handelskonflikt weiter spüren. Je eher dieser endet, desto größer ist der Schutz vor einer Rezession.

Mit Christine Lagarde steht die Europäische Zentralbank (EZB) seit November 2019 unter neuer Führung. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat im EZB-Rat einigen Gesprächsbedarf zurückgelassen. So sind die Ratsmitglieder im Hinblick auf die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms und dem Leitzins auf Rekordtief gespaltener Meinung. Einige fordern einen Kurswechsel der EZB. Wo sehen Sie die EZB Ende 2020?
Ein Kurswechsel ist völlig unrealistisch. Dagegen sprechen die konjunkturelle Abschwungphase und die tiefe Inflationsrate. Das Vorgehen der EZB in den vergangenen Jahren deutet zudem darauf hin, dass weitere Ziele verfolgt werden: die Finanzmarktstabilität, tragfähige Staatsschulden und der Euro-Erhalt. Die von EZB-Chefin Lagarde angekündigte Überprüfung der geldpolitischen Strategie dürfte so erfolgen, dass gerade diese Ziele nicht gefährdet werden.

Wird die EZB an ihrem geldpolitischen Lockerungskurs 2020 festhalten?
Der Expansionsgrad der EZB dürfte Ende 2020 höher sein als 2019. Wahrscheinlich wird der Einlagesatz noch einmal gesenkt, zudem dürfte sich die EZB an unkonventionellen Maßnahmen abarbeiten. Der Lockerungskurs ist außerdem keine vorübergehende Erscheinung, er wird die Normalität in der kommenden Dekade sein.

Das Jahr 2019 stand ganz im Zeichen von Niedrigzins. Mittlerweile sind nicht mehr ausschließlich Banken von Strafzinsen betroffen, sondern auch Privatanleger müssen teils ab dem ersten Cent zahlen. Auch von Krediten mit Negativzinsen ist inzwischen die Rede. Rechnen Sie mit flächendeckender Verbreitung von Negativzinsen für Privatkunden?
Die EZB-Geldpolitik ist bis auf Weiteres auf eine Zementierung von Negativzinsen angelegt. Da ist die Gefahr groß, dass diese irgendwann auch an Privatkunden weitergereicht werden. Diese geschäftspolitischen Entscheidungen sind aber nicht prognostizierbar.

Die USA befinden sich im längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Doch es gibt auch Hemmschuhe, weiß Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Politische Unsicherheiten und Diskussionen über die Regulierung amerikanischer Großindustrien wie beispielsweise Finanzen, Pharma, Energie und Tech im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2020 könnten das Wachstum hemmen. Wie schätzen Sie das Wachstum der USA für das nächste Jahr ein?
Die Impulse der Steuerreform werden weiter abnehmen und die Wirtschaftsleistung mit 1,8 % "nur" noch wenig schneller wachsen als ihr Potenzial. Dennoch garantiert dies weitere Beschäftigungszuwächse in einem, anders als von der Arbeitslosenquote angezeigt, keinesfalls vollbeschäftigten Arbeitsmarkt. Das Vorhaben Trumps, das Wachstum dauerhaft auf 3 % und mehr zu heben, wird jedenfalls um Längen verfehlt.

Im November des nächsten Jahres wird in den USA wieder gewählt. Inwieweit werden sich der Wahlkampf und die Wahl voraussichtlich auf die Börsen auswirken?
Die Erfahrung zeigt, dass der Markteinfluss im Vorfeld von Wahlen meist nicht so groß ist. Nach der Wahl kann das aber ganz anders sein, wenn jemand überraschend Präsident wird, diese Extrempositionen vertritt und seine Partei vor allem auch den Kongress kontrolliert. Das war beispielsweise bei Trumps Wahl der Fall.

Sowohl der Export wie auch die Industrie schwächeln. Die Konsumnachfrage ist aber nach wie vor gut. Bleibt der Konsum auch 2020 die Stütze der deutschen Konjunktur?
Das bleibt er. Die Stütze erreicht aber nicht mehr die Stärke der vergangenen Jahre. Arbeitsmarkt und Lohnwachstum sind am Zenit. Das Konsumwachstum wird also sinken. Die Gefahr eines stärkeren Abgleitens ist gering, da die Bundesregierung bereits scheibchenweise für Unterstützung sorgt, etwa mit höheren Grundfreibeträgen und nennenswerten Rentenerhöhungen.

Könnte die deutsche Wirtschaft 2020 in eine Rezession abgleiten?
Aufgrund der bereits niedrigen Wachstumsdynamik ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen. Neben der Spätzyklik sind es aber wohl in erster Linie politische Risiken, die hierzu führen könnten, etwa US-Zölle.

Was ist Ihre Einschätzung? Stehen die Börsen im nächsten Jahr vor einem Boom oder vor einem Crash?
Gegen einen Boom sprechen die bescheidenen Konjunkturaussichten, nur verhalten expansiver werdende Notenbanken und das bereits hohe Kursniveau. Es fehlt also an nachhaltiger Kursfantasie. Gegen einen Crash spricht, dass Notenbanken ihren Expansionsgrad jederzeit deutlich erhöhen können und positive Realzinsen vor allem mit Aktien zu erwirtschaften sind. Zu sorglos sollte mit der Crash-Gefahr allerdings nicht umgegangen werden: Von der hohen globalen Verschuldung und den deutlich stärker als das nominale Bruttoinlandsprodukt wachsenden US-Nettovermögen gehen seit Langem erhebliche Risiken aus.

Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2020 setzen?
In Zeiten finanzieller Repression stehen Sachwerte ganz oben auf der Anlageliste. Neben Aktien gehört für mich auch Gold zum Portfolio.

Herr Iltgten, wo steht der DAX zum Jahresende?
Unser DAX Ziel von 14.150 Punkten (+6.5 Prozent) ergibt sich aus den Bottom-up-Einschätzungen der jeweiligen Sektoren und Einzeltitel. Wir sind vorsichtig bezüglich der Auto-, Chemie- und Industriesektoren und positiv bezüglich des Pharma- und Technologiesektors, wo sich eine zyklische Erholung abzeichnet. Nachdem die vergangenen beiden Jahre jeweils neue Rekordstände bei der Anzahl der Gewinnwarnungen markierten, dürfte sich der Newsflow im kommenden Jahr leicht verbessern.