BOERSE-ONLINE.de: 2019 litten die Börsen weltweit unter politischen wie auch wirtschaftlichen Unsicherheiten wie etwa dem Brexit oder dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten stehen 2020 besonders im Fokus?
Dr. Jörg Krämer: Das Auf und Ab im Handelskonflikt bleibt auch 2020 der wichtigste Einflussfaktor - sowohl für die Konjunktur als auch die Finanzmärkte.

Ist eine Entspannung bei den aktuellen Dauerbrennern Brexit und Handelsstreit in Sicht?
Der Wahlkämpfer Trump braucht eine stabile US-Konjunktur und steigende Aktienkurse. Deshalb strebt er mit China zumindest ein Teilabkommen an und dürfte gegenüber der EU bis auf weiteres auf Autozölle verzichten. Diese Politik der De-Eskalation sollte die handelspolitische Unsicherheit 2020 etwas reduzieren, was für die Konjunktur verglichen mit 2019 positiv ist. Aber grundsätzlich werden die Unternehmen misstrauisch bleiben. Schließlich wissen sie, dass sich der Konflikt zwischen der etablierten Macht USA und der aufstrebenden Macht China kaum lösen lässt und der Handelskrieg nach der Präsidentschaftswahl im November 2020 wieder aufflammen könnte - ausgelöst entweder durch einen wiedergewählten Donald Trump oder durch einen Vertreter der demokratischen Partei, die mittlerweile ähnlich protektionistisch ist wie Trump. Die handelspolitische Unsicherheit dürfte 2020 wegen eines Waffenstillstands zwar sinken, aber verglichen mit den Jahren zuvor hoch bleiben. Die Konjunktur wird weiter gedämpft, wenn auch weniger als 2019.

Aus heutiger Sicht: Welche Themen dürften die Börsen 2020 sonst noch beschäftigen?
Interessant wird auch, wie die US-Notenbank auf den politischen Druck reagiert, der vom Wahlkämpfer Trump ausgeht. Wir erwarten, dass die Fed nachgibt und ihren Leitzins im Frühjahr noch einmal senkt.

Das schwächelnde Wachstum der chinesischen Wirtschaft bremst die Weltwirtschaft und hemmt damit auch die Aussichten für Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser Entwicklung im nächsten Jahr sein?
Zwar hat die chinesische Regierung die Einkommen- und Mehrwertsteuer sowie der Sozialbeiträge um einen Betrag gesenkt, der immerhin zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Aber die Konsumenten geben das zusätzliche Geld nicht aus - wohl weil sie wegen der Wirtschaftskrise verunsichert sind und das Geld zur Finanzierung der immer teurer werdenden Appartements benötigen. Trotzdem dürfte die Regierung das Konjunkturprogramm nicht nennenswert aufstocken, weil sie sich der langfristig negativen Wirkungen solcher Programme bewusst ist. Die wirtschaftlichen Probleme kann sie ohnehin dem US-Präsidenten und seinem Handelskrieg in die Schuhe schieben. Alles in allem dürfte die Importnachfrage Chinas, die bis zuletzt gefallen ist, 2020 nur mit Raten im niedrigen einstelligen Bereich zulegen. China fällt als Konjunkturlokomotive für die Weltwirtschaft auch 2020 aus.

Mit Christine Lagarde steht die Europäische Zentralbank (EZB) seit November 2019 unter neuer Führung. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat im EZB-Rat einigen Gesprächsbedarf zurückgelassen. So sind die Ratsmitglieder im Hinblick auf die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms und dem Leitzins auf Rekordtief gespaltener Meinung. Einige fordern einen Kurswechsel der EZB. Wo sehen Sie die EZB Ende 2020?
Wir erwarten für 2020 keine weitere Lockerung der Geldpolitik. Erstens erkennen selbst Tauben wie EZB-Vize Luis de Guindos an, dass die Wirtschaft im Euroraum im dritten Quartal etwas stärker gewachsen ist, als es die EZB unterstellt hatte. Zweitens wird immer deutlicher, dass Christine Lagarde im Gegensatz zu Mario Draghi einen konsensualen Führungsstil präferiert - auch um die Konflikte im EZB-Rat zu lindern, die eskalierten, nachdem Draghi im September die umstrittene Wiederaufnahme der Nettokäufe von Anleihen mit der Brechstange durchgesetzt hatte. Bleibt ein Einbruch der Konjunktur auch 2020 aus, dürfte Christine Lagarde die Füße stillhalten, zumal die negativen Nebenwirkungen der lockeren Geldpolitik immer sichtbarer werden. Anders als Mario Draghi wird Christine Lagarde im Zweifel geldpolitisch nicht nachlegen.

Die USA befinden sich im längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Doch es gibt auch Hemmschuhe, weiß Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Politische Unsicherheiten und Diskussionen über die Regulierung amerikanischer Großindustrien wie beispielsweise Finanzen, Pharma, Energie und Tech im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2020 könnten das Wachstum hemmen. Wie schätzen Sie das Wachstum der USA für das nächste Jahr ein?
Wir rechnen nicht mit einer Rezession oder einem merklichen Abschwung. Für ein ordentliches Wachstum von 1,7 Prozent spricht der robuste Arbeitsmarkt, der den privaten Verbrauch stützt. Außerdem sind die Hypothekenzinsen wegen der Zinssenkungen der Notenbank deutlich gesunken, worauf der Wohnungsbau schon positiv reagiert.

Im November des nächsten Jahres wird in den USA wieder gewählt. Inwieweit werden sich der Wahlkampf und die Wahl voraussichtlich auf die Börsen auswirken?
Donald Trump kann für seine Wiederwahl keine einbrechenden Aktienmärkte gebrauchen. Deshalb wird er die Notenbank weiter zu Zinssenkungen drängen, was natürlich die Aktienkurse stabilisiert.

Strategen blicken dem neuen Börsenjahr teils nicht sehr optimistisch entgegen. In welchen Branchen sehen Sie die größten Chancen und warum?
Trifft Trump nach der Jahreswende mit China eine Vereinbarung im Handelsstreit, werden sich die meisten Investoren zunächst freuen und das Glas halb voll sehen. Wird aber im weiteren Verlauf des Jahres klar, dass keine weiteren Vereinbarungen folgen und sich die Wirtschaft nur wenig erholt, könnte die Stimmung kippen und viele das Glas nur noch halb leer sehen. Dieses Muster ist vor allem für den Aktienmarkt relevant, wo die Kurse in diesem Jahr trotz der Rezession in der Industrie stark zugelegt haben. Außerdem erwarten die Analysten etwa für die Dax-Unternehmen, dass diese ihre Gewinne 2020 um 11 Prozent steigern, was angesichts einer wohl nur blutleeren Belebung viel zu optimistisch ist. Nach möglichen weiteren Kursgewinnen im ersten Halbjahr steigen in der zweiten Hälfte von 2020 die Risiken. Unser Jahresendziel für den Dax ist mit 13.700 Punkten deshalb bewusst konservativ.

Sowohl der Export wie auch die Industrie schwächeln. Die Konsumnachfrage ist aber nach wie vor gut. Bleibt der Konsum auch 2020 die Stütze der deutschen Konjunktur?
Der bis zuletzt stabile Arbeitsmarkt wirkt wie ein Sicherheitsnetz für die deutsche Konjunktur. Die Beschäftigung sollte den konjunkturellen Problemen weiterhin trotzen. Schließlich tun die deutschen Unternehmen alles, um begehrte Fachkräfte zu halten. Käme es konjunkturell wider Erwarten schlimmer, stehen mit den prall gefüllten Arbeitszeitkonten und dem Kurzarbeitergeld Instrumente zur Verfügung, die sogar im Krisenjahr 2009 einen Einbruch der Beschäftigung verhindert hatten. All das spricht dafür, dass der Konsum die Stütze der deutschen Konjunktur bleibt.

Könnte die deutsche Wirtschaft 2020 in eine Rezession abgleiten?
Das ist eher unwahrscheinlich. Dafür müsste der Handelskrieg massiv eskalieren, was Trump im Wahlkampf aber vermeiden dürfte.

Was ist Ihre Einschätzung? Stehen die Börsen im nächsten Jahr vor einem Boom oder vor einem Crash?
Weder noch. Trifft Trump nach der Jahreswende mit China eine Vereinbarung im Handelsstreit, werden sich die meisten Investoren zunächst freuen und das Glas halb voll sehen. Wird aber im weiteren Verlauf des Jahres klar, dass keine weiteren Vereinbarungen folgen und sich die Wirtschaft nur wenig erholt, könnte die Stimmung kippen und viele das Glas nur noch halb leer sehen. Unser Jahresendziel für den Dax ist mit 13.700 Punkten bewusst konservativ.