Hiervon ist Imamoglu zwar sicherlich noch weit entfernt, allerdings verliert die AKP mit der größten Stadt des Landes eine wichtige Geldquelle, um Günstlinge und solche, die es werden sollen, mit lukrativen Posten und Verträgen zu versorgen. Hinzu kommt, dass die AKP in keiner der drei größten Städte des Landes die Zügel in der Hand hält.

Auch wenn viele Beobachter den Sieg Imamoglus - durchaus zu Recht - für einen Sieg der Demokratie in der Türkei halten, sollte sich die Opposition nicht zu sehr auf der Siegerstraße wähnen. Zum einen bleibt unklar, ob die Staatsführung den Machtwechsel im Istanbuler Rathaus letztendlich akzeptieren wird. Erdogan warf Imamoglu jüngst Beleidigung eines Provinzgouverneurs vor und drohte damit, ihn vor Gericht zu bringen. Zumindest theoretisch bestünde dann die Chance, den oppositionellen Bürgermeister seines Amtes zu entheben und per Dekret des Präsidenten zu ersetzen - verbunden mit dem Risiko, eine schwere innenpolitische Krise auszulösen. Zum anderen verfügt die AKP landesweit über eine stabile Mehrheit, und Präsident Erdogan hat alle Macht auf sich und seine Bedürfnisse zugeschnitten. Daran ändert auch ein Istanbuler Bürgermeister von der Opposition vorerst nichts.

Die türkische Landeswährung hat das Wahlergebnis und die Anerkennung durch Erdogan und andere heute Morgen zwar sehr erfreut zur Kenntnis genommen und zeitweise spürbar zugelegt. Zu gemütlich sollte es sich die Lira nach der jüngsten Wahl aber nicht machen. Mit den von US-Seite angedrohten Sanktionen aufgrund der Anschaffung eines russischen Luftabwehrsystems durch die Türkei droht bereits wieder Ungemach mit enormer potenzieller Sprengkraft. In den vergangenen Wochen hat Präsident Erdogan keine Anstalten gemacht, von seinen Plänen Abstand zu nehmen.

Im Gegenteil - sollen doch bereits Vergeltungsmaßnahmen erarbeitet worden sein, sofern die USA Sanktionen ergreifen würden. Offenbar wollte oder konnte sich das Staatsoberhaupt im Wahlkampf kein Zeichen der Schwäche erlauben. Ob sich diese Einstellung nach der Wahlniederlage ändert, ist zumindest fraglich. Bis Ende Juli hat Erdogan noch Zeit, einen Sinneswandel zu vollziehen und einen Kompromiss mit Washington zu suchen. Erste Hinweise darauf, wie die Chancen hierfür stehen, könnten sich am Wochenende ergeben. Auf dem G20-Gipfel ist ein Treffen zwischen Erdogan und seinem US-Amtskollegen Trump vorgesehen.

Stefan Bielmeier ist Chefvolkswirt der DZ-Bank.