Nun geht es doch. Um Deutschlands große Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland so schnell wie möglich zu verringern, sollen an der Nordsee in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel die ersten Terminals für die Anlieferung und Verteilung von Flüssiggas LNG gebaut werden. In Brunsbüttel hatte der niederländische Terminalspezialist Vopak LNG Holding im Dezember das Handtuch geworfen und seine Investitionen abgeschrieben. Nun steigt der Bund über die Förderbank KfW mit 500 Millionen Euro und 50 Prozent an der Betreibergesellschaft ein, 40 Prozent übernimmt der staatseigene niederländische Gasnetzbetreiber Gasunie, zehn Prozent der Versorger RWE. Betreiber der Anlage sollen Gasunie werden.

Neben Brunsbüttel und Wilhelmshaven sind auch Stade und Rostock als Standorte für LNG-Terminals im Gespräch. Europaweit sind nach Angaben des Energieverbands VDEW 36 LNG-Terminals in Betrieb.

Bis Deutschlands Terminals einsatzfähig sind, was in Brunsbüttel ersten Schätzungen zufolge frühestens 2025 so weit ist, kann die Bundesrepublik nach Angaben des VDEW über bestehende Pipelines LNG aus den Terminals im niederländischen Gate, aus Dunkerque in Frankreich und aus dem belgischen Zeebrugge beziehen.

Erdöl und Gas machten 2021 zusammen 59 Prozent von Deutschlands Energieverbrauch aus. Zwei Drittel der Gaslieferungen kommen aus Russland, 21 Prozent aus Norwegen und etwas mehr als elf Prozent aus den Niederlanden.

Um Deutschland LNG-Lieferungen zu sichern, reiste Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nach Doha in die Hauptstadt des Wüstenstaats Katar. Der weltweit zweitgrößte Produzent von Flüssiggas nach Australien will seine Kapazitäten während der nächsten Jahre deutlich ausbauen. Habeck gelang es, mit Katar "eine langfristige Energiepartnerschaft" zu vereinbaren. Kurzfristig helfen die Vereinbarungen Deutschland jedoch nicht, Gas aus Russland zu ersetzen. Wohl auch deshalb mahnte Habeck, dass die Planungs- und Bauarbeiten für LNG-Terminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven deutlich kürzer ausfallen müssen als die bisher üblichen fünf Jahre.

Ersatz für 40 Prozent des EU-Gases

Am 23. März gab Russland bekannt, beim Export von Gas künftig nur noch Rubel zu akzeptieren. Diese radikale Maßnahme des Kreml, mit der auch bestehende Lieferverträge gebrochen werden, verteuerte Gas am Mittwoch um 30 Prozent. In Europa deckt Russland rund 40 Prozent des Gasbedarfs. Das Manöver des Kreml, um die Landeswährung zu stützen, dürfte die Pläne der EU innerhalb eines Jahres einen erheblichen Teil des russischen Gases durch zusätzliches LNG zu ersetzen, beschleunigen. Dazu wären nach Berechnungen des US-Börsendiensts Bloomberg Importe in der Größenordnung von fast 40 Millionen Tonnen nötig. Das entspricht beinahe dem jährlichen Bedarf Südkoreas. Das Land ist der drittgrößte Einkäufer auf dem Weltmarkt. Die Nachfrage der EU würde das verfügbare zusätzliche Angebot bei Weitem übersteigen . Rund 65 Prozent der LNG-Produktion sind durch langfristige Verträge abgesichert: "Dies würde enormen Aufwärtsdruck auf die Spotpreise ausüben", warnt Saul Kavonic, Energieanalyst der Bank Credit Suisse. Die globalen Gasvorräte sind knapp. Europas LNG-Plan dürfte die Bemühungen asiatischer Länder verstärken, sich Gas zu sichern. "Es ist sehr ineffizient, wenn australisches LNG nach Europa geht, aber das könnte passieren. Die meisten Regeln der Energiemärkte wurden über Bord geworfen", meint Experte Kavonic.

Neuordnung im Gasmarkt

Aus Australien meldete sich derweil Meg O’Neil, Chefin von Woodside Petroleum: "Die Welt wird nüchtern über den Weg zur Diversifizierung der Energieversorgung nachdenken und auf Länder wie die USA und Australien schauen, um zu sehen, wie sie gleichgesinnte Länder unterstützen kann, ihre Energieversorgung zu sichern", sagte sie jüngst auf einer Konferenz in Sydney. Woodside Petroleum ist Australiens Nummer 1 bei Erdgas und LNG.

Die globalen Auswirkungen von Russlands Krieg in der Ukraine werden den Gasmarkt nachhaltig verändern. Im Jahr 2020 waren Europas LNG-Terminals nach Abgaben des VDEW zu 40 Prozent ausgelastet, auch ohne Neubauten ist also Potenzial für höhere Liefermengen vorhanden. Wie gut das zusätzliche LNG über die Infrastruktur in Europa verteilt werden kann, muss sich allerdings noch zeigen. Auch Norwegens Equinor, Deutschlands zweitgrößter Gaslieferant, wird seine Exportkapazitäten voraussichtlich erhöhen.

Auf seiner Reise an den Persischen Golf besuchte Wirtschaftsminister Habeck mit einer Delegation aus Vertretern deutscher Konzerne, darunter RWE-Chef Markus Krebber und Thyssenkrupp-Lenkerin Martina Merz, auch die Vereinigte Arabischen Emirate, um in Abu Dhabi über Kooperationen bei Wasserstoff zu verhandeln.

Sowohl für RWE als auch für Thyssenkrupp ist Wasserstoff ein Geschäft mit großem Potenzial. RWE, einst Deutschlands zweitgrößter Versorger mit Strom aus Gas und Kohle, richtet sein Geschäftsmodell nun auf erneuerbare Energien sowie auf Wasserstoff aus. Nach dem Tausch von Geschäftsbereichen mit dem Ex-Konkurrenten Eon, inzwischen Europas größter Netzbetreiber, ist RWE hierzulande der größte Lieferant von grünem Strom.

In Brunsbüttel baut RWE parallel zu seiner Beteiligung am LNG-Terminal auch ein Terminal für grünen Ammoniak. Grün, weil das Gas aus drei Wasserstoff- und einem Stickstoffmolekül mit Strom aus regenerativen Energien hergestellt wird.

Ammoniak, ein begehrter Rohstoff für Stickstoffdünger, ist auch ein komfortables Transportmedium für Wasserstoff. Ab 2026 sollen in Brunsbüttel jährlich 300.000 Tonnen grüner Ammoniak geliefert werden, um ihn an RWEs Kunden zu verteilen. In der nächsten Ausbaustufe soll aus dem Ammoniak auch grüner Wasserstoff hergestellt werden. Den Energieträger will RWE über Pipelines direkt an Industriekunden liefern. Dafür sollen dann jährlich bis zu zwei Millionen Tonnen Ammoniak nach Brunsbüttel geliefert werden.

Das Potenzial von Wasserstoff

Der Industrie- und Stahlkonzern Thyssenkrupp bereitet währenddessen den Börsengang seiner Wasserstofftochter Nucera vor. Das Unternehmen hat eine neue Technologie für alkalische Wasserelektrolyse entwickelt, um grünen Wasserstoff in industriellen Maßstäben herzustellen. Zum Jahreswechsel lag Nuceras Auftragsbestand bei 900 Millionen Euro. US-Industriegasehersteller Air Products hatte Ende Dezember für eines der größten Projekte für grünen Wasserstoff eine Anlage mit einer Leistung von zwei Gigawatt bestellt.

Das Marktpotenzial für Unternehmen wie die Dortmunder Nucera, Nel Asa aus Norwegen und Plug Power aus den USA ist enorm. Die hohen Gaspreise dürften den technologischen Wandel von Grau zu Grün in der Herstellung von Wasserstoff beschleunigen, also den Ersatz von Erdgas durch Wasserelektrolyse mit Strom aus Sonne und Wind. Mit grauem Wasserstoff wurden nach Angaben von Nucera zuletzt weltweit 110 Milliarden Dollar umgesetzt. Mit dem Einsatz der Wasserelektrolyse für grünen Wasserstoff erwarten Experten bis 2050 das siebenfache Umsatzvolumen. Auch der weltweit größte Industriegasekonzern Linde, der rund sieben Prozent des Umsatzes mit Wasserstoff einfährt, ist einer der großen Gewinner.

Die Kraft von Sonne und Wind

Nicht nur für Wasserstoff, sondern für den gesamten klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft ist Strom aus Wind und Sonne die Basis - also auch beim Wandel von Grau zu Grün in der Herstellung von Ammoniak, Methanol und Raffinerieprodukten. In der EU werden dafür bisher 50 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr eingesetzt. Der Wechsel zur Elektrolyse mit grünem Strom würde Europas Gasverbrauch um beachtliche zwölf Prozent reduzieren. Die hohen Gaspreise sollten auch hier den Wandel zu Grün und damit auch den Ausbau der Kapazitäten für Strom aus Sonne und Wind beschleunigen.

Gut ein Fünftel der russischen Gaslieferungen, die laut RePowerEU-Agenda der EU-Kommission bereits innerhalb eines Jahres ersetzt werden, soll grüner Strom aus Wind-und Solarparks ausgleichen. Das sind für RWE und den weltweit größten Betreiber von Windparks im Meer, die dänische Ørsted, gute Nachrichten.

Weil Windfarmen und Solarparks an Land deutlich schneller errichtet werden können als grüne Kraftwerke auf dem Meer, sollte auch das Geschäft des Bremer Versorgers Energiekontor anziehen. Hierzulande liefern die Hanseaten Strom aus 28 Windfarmen und einem Solarpark. Um schnell zu wachsen und künftig Unternehmen auch direkt mit grünem Strom zu beliefern, übernimmt Energiekontor nun die Hälfte seiner Projekte in den eigenen Bestand.

Auch die Geschäfte von großen Zulieferfirmen dürften Fahrt aufnehmen: etwa beim dänischen Windturbinenentwickler Vestas oder bei First Solar, dessen Dünnschichtsolarmodule etwas teurer, dafür aber effizienter als die Massenware aus China sind. Enphase Energy, ebenfalls aus den USA, setzt Trends mit seinen Microinvertern. Die Module für die Umwandlung des Gleichstroms der Solarzellen in den Wechselstrom für das Netz sind viel kleiner als Inverter der Konkurrenz und schließen einzelne Solarmodule direkt an das Netz an. Das macht ihren Einsatz flexibel.
 


INVESTOR-INFO

Equinor

Norwegisches Erdgas

Norwegens Energieriese, früher als Statoil bekannt, ist Europas zweitgrößter Gaslieferant. Die Ziele der EU in Bezug auf den schnellen Ersatz für russisches Gas sind ambitioniert. Das Angebot ist knapp, die Reserven in Gasspeichern niedrig. Höhere Preise und zusätzliche Lieferungen der Norweger sind deshalb wahrscheinlich. Für 2022 erwarten Analysten mit 112,6 Milliarden Dollar Umsatz ein Plus von mehr als 25 Prozent. Der Gewinn soll um knapp 30 Prozent zulegen.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 40,00 Euro
Stoppkurs: 24,00 Euro

RWE

Profiteur der Wende

Europas Plan, so schnell wie möglich unabhängig von russischen Energieressourcen zu werden, und Deutschlands Vorhaben, beim Strom ab 2035 zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien zu setzen, bringt RWE voran. Bis 2030 will der Konzern seinem Portfolio jährlich 2,1 Gigawatt aus Wind und Sonne hinzufügen. Spannend wird es auf der Hauptversammlung am 28. April. Investor Enkraft fordert die Abspaltung der Kohlesparte.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 46,00 Euro
Stoppkurs: 28,00 Euro

Woodside Petroleum

Australiens LNG-Primus

Der Erdgasriese aus Perth verfügt über Äquivalente von gut 100 Millionen Barrel Reserven. Woodside profitiert von der starken Nachfrage der großen asiatischen Länder. Die hohen Gaspreise, die 80 Prozent der Erlöse liefern, dürften Woodside ein Rekordjahr bescheren. Mit gut neun Milliarden Dollar Umsatz erwarten Analysten ein Plus von 34 Prozent. Der Nettogewinn könnte um 40 Prozent auf zwei Milliarden Dollar zulegen.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 27,00 Euro
Stoppkurs: 15,00 Euro

Energiekontor

Starkes Wachstum

Am Donnerstag präsentierte der Betreiber von Solar- und Windparks in Europa die Bilanz für 2021 und den Ausblick aufs laufende Jahr. Für 2022 erwarten Analysten 252 Millionen Euro Umsatz, ein deutliches Plus von 50 Prozent, und beim Nettogewinn mit 45,7 Millionen einen Zuwachs von über 60 Prozent.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 96,00 Euro
Stoppkurs: 55,00 Euro