Szenen, die man lange nicht gesehen hat: feiernde Menschen in den Straßen, gefüllte Straßencafés, Schlangen vor den Geschäften. Von einem "wilden Wochenende" in England berichtet das Boulevardblatt "Sun". Nahezu drei Milliarden Pfund seien für Einkäufe ausgegeben worden. Natürlich ist auch viel Bier geflossen: So viel, dass man damit den Haupt-Tennisplatz in Wimbledon hätte füllen können, rechnet die "Sun" vor.

Das Königreich feiert den Anfang vom Ende des Lockdowns. Vor knapp zwei Wochen hat die Regierung viele Pandemie-Beschränkungen gelockert. Unter anderem dürfen Kneipen unter freiem Himmel öffnen. Die Briten profitieren damit vom Krisenmanagement ihrer Regierung, durch das ein deutlich größerer Teil der Bevölkerung als in der Eurozone geimpft werden konnte.

Die Aktienmärkte halten sich allerdings noch zurück: Der britische Leitindex FTSE 100 hat seit Jahresbeginn in Heimatwährung gerechnet rund sechs Prozent zugelegt und damit weniger als der deutsche DAX und der europäische Euro Stoxx 50. Auch für ein neues Rekordhoch hat es bislang nicht gereicht.

Die verhaltene Kursentwicklung britischer Aktien hat handfeste Gründe: Das Königreich hat viel einstecken müssen. Die Pandemie hat auf der Insel besonders schwer gewütet. Und das ausgerechnet in der Zeit, in der viele Unternehmen den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union bewältigen müssen. Um fast zehn Prozent ist das britische Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr geschrumpft. Der Einbruch war damit mehr als drei Prozentpunkte stärker als in der Eurozone. Die Erholung sollte aber auch auf der Insel kräftig ausfallen: Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass die britische Wirtschaft im laufenden und im kommenden Jahr um jeweils mehr als fünf Prozent wächst. Der Eurozone werden 4,4 beziehungsweise 3,8 Prozent Plus zugetraut.

Unter Börsianern wächst inzwischen die Zuversicht: "Wir sehen 2021 für Großbritannien größeres Aufwärtspotenzial als für Europa", kalkuliert die amerikanische Investmentbank Morgan Stanley. Die britische Bank Barclays hat Aktien ihres Heimatlands Anfang des Monats auf "Übergewichten" hochgestuft. Bei den Gesprächen mit Kunden zeige sich ein gestiegenes Interesse an britischen Aktien, so die Analysten.

Comeback-Kandidat

Vor allem zwei Gründe sprechen für ein Comeback des Königreichs an der Börse: Aktien der großen britischen Unternehmen sind im internationalen Vergleich günstig zu haben. Die Gewinnschätzungen sind zuletzt stärker gestiegen als bei den Konkurrenten auf dem Kontinent, was sich aber nicht in den Kursen niederschlägt. Die Daten des Finanzdiensts Bloomberg zeigen, dass der britische Aktienindex FTSE 100 beim Kurs-Gewinn-Verhältnis gegenwärtig mit einem Abschlag von knapp 25 Prozent zum Euro Stoxx 50 gehandelt wird. Im langjährigen Schnitt liegen beide Indizes bei dieser Kennziffer in etwa auf Augenhöhe.

Auch die große Rotation an den Börsen sollte dem britischen Aktienmarkt helfen. Im FTSE 100 sind sogenannte Value-Branchen wie Rohstoffe und Finanzen stark gewichtet. Diese Aktien entwickeln sich erfahrungsgemäß meist dann besonders gut, wenn die Wirtschaft kräftig wächst. Royal Dutch Shell, BP oder auch Rio Tinto und BHP profitieren bereits von deutlichen Preissteigerungen an den Rohstoffmärkten.

Die Liste der britischen Finanzwerte wird von HSBC angeführt. Auf Anweisung der Zentralbank wurde in der Pandemie die Dividende ausgesetzt. Ende April werden Aktionäre von HSBC erstmals wieder eine Quartalsdividende ausbezahlt bekommen. Auch das ist ein klares Signal, dass sich die Lage normalisiert.

Näher am Partyvolk als die Banken und Bergbaukonzerne ist Diageo mit seinen Produkten. Der Spirituosenhersteller ist bekannt für die Biermarke Guinness, vor allem aber für hochprozentige Drinks wie Johnnie Walker. Größter Absatzmarkt von Diageo ist mit zuletzt knapp 40 Prozent Nordamerika. Auch dort kommt die Verteilung der Impfstoffe schneller voran als in Kontinentaleuropa. Das spricht für eine zügige Geschäftserholung bei Diageo.

Von weiteren Lockdown-Lockerungen in Großbritannien sollte auch die Tourismusindustrie profitieren. Die Engländer sind auf ihrer Insel nicht unbedingt von Sonnenschein verwöhnt und reisen darum gern nach Südeuropa. Ab Mai, so die vorläufigen Pläne, könnten die Regierung Urlaubsflüge ins Ausland erlauben.

Das würde den Billigflieger Easyjet freuen, der gegenwärtig lediglich 20 Prozent der Kapazität des Vorkrisenjahrs aktiviert hat, sein Angebot an Flügen aber schnell ausweiten kann. Da Easyjet auf Kurz- und Mittelstrecken spezialisiert ist, sollte der Aufschwung für die Gesellschaft schneller kommen als bei den stärker auf die Langstrecke ausgerichteten Netzwerk-Airlines wie British Airways oder Deutsche Lufthansa.

Die Party geht weiter

Großbritannien hat neben seinen internationalen Großkonzernen auch viele kleinere und stärker auf den Heimatmarkt ausgerichtete Unternehmen. Wie den Einzelhändler WH Smith, der an Flughäfen, Bahnhöfen und in Innenstädten Bücher und zahlreiche Gebrauchsgegenstände wie Büroartikel verkauft. Im Lockdown mussten viele Läden geschlossen werden, jetzt geht es langsam wieder los. Das Analysehaus RBC erwartet, dass sich das Geschäft von WH Smith mit stärkeren Reiseaktivitäten erholen wird. In dem bis Ende August laufenden Geschäftsjahr dürfte das Unternehmen einen Verlust erwirtschaften, dann aber den Sprung in die Gewinnzone schaffen.

Ähnlich ist die Kalkulation beim Gastronomen Mitchells & Butlers, der rund 1.700 Restaurant und Pubs vor allem in Großbritannien betreibt. Auch dort wird das laufende Geschäftsjahr rote Zahlen bringen. Entscheidend aus Sicht der Börse ist jedoch die Aussicht auf die Trendwende.

Die Party auf den Straßen wird weitergehen, bringt aber auch unerwartete Probleme. Der Branchenverband der Pub-Betreiber warnt inzwischen, dass einige Kneipen Probleme haben, auf die Schnelle genug Personal einzustellen. Davon werden sich die Briten nicht bremsen lassen. Die "Sun" kalkuliert, dass der Bierkonsum aufgrund des inzwischen besseren Wetters um 50 Prozent steigen wird.


INVESTOR-INFO

Schwergewichte

Rohstoffriesen

Am britischen Aktienmarkt sind Branchen prominent vertreten, die es im DAX so nicht gibt. Die BHP Group ist ein breit aufgestellter Bergbaukonzern, der zuletzt u. a. von anziehenden Preisen für Eisenerz profitiert hat. Die Aktie von Royal Dutch Shell ist vor allem eine Wette auf weiter steigende Ölpreise und wirft nebenbei eine überdurchschnittliche Dividendenrendite ab. Stabiler als die Rohstoffbranche ist Diageos Geschäft mit Spirituosen.

Neustart-Gewinner

Auf der Startbahn

Das Geschäft des Billigfliegers Easyjet sollte sich nach einem Neustart normalisieren. Stark gelitten haben auch der Händler WH Smith, der seine Geschäftszahlen am 29. April vorlegt, und das Gastronomie-Unternehmen Mitchells & Butlers, das Anfang Mai berichten will. Da diese beiden Aktien in Deutschland kaum gehandelt werden, nur mit Limit ordern. Riskantes Investment.

Fonds

Die Macht der Masse

Unter den auf Großbritannien spezialisierten Aktienfonds hat Blackrock United Kingdom besonders gut abgeschnitten. Größte Positionen waren dort zuletzt u. a. Rio Tinto und BHP. Günstiger im Unterhalt sind ETFs. Anleger können so den FTSE 100, also den Index der 100 größten britischen Unternehmen, abbilden. Oder auch den mit rund 600 Titeln weiter gefassten FTSE UK All Share.