€URO AM SONNTAG: Herr Leber, Ihre Frau ist für Acatis tätig, daneben aber auch Galeristin und Kunstberaterin. Worüber unterhalten Sie sich am Abend öfter: Kunst oder Wirtschaft und Börse?


HENDRIK LEBER: Wirtschaft und Börse. Bei einem Spaziergang gestern Abend haben wir vielleicht zu 20 Prozent über Kunst gesprochen. Der "Geldanteil" ist über die Zeit immer größer geworden. Aber: Über die Kunst haben wir uns kennengelernt. Die erste Stunde, die ich mit ihr allein verbracht habe, war auf der Kunstmesse in Basel. Da musste ich zeigen, wie progressiv ich bin mit moderner Kunst. Und sie musste ganz beeindruckt sein (lacht).

Sehen Sie Gemeinsamkeiten bei Kunst und erfolgreicher Vermögensverwaltung?


Nein. Meine Frau muss ihren Geschmack spielen lassen. Sie muss sagen, diese Künstler mag ich - liebe Kunden, mögt ihr die auch? Ich dagegen werde jeden Tag, jede Minute vom Kapitalmarkt beurteilt, ob ich die richtigen Entscheidungen treffe. Da kann ich wünschen, denken, interpretieren, was ich will. Ich muss in den Kopf des Marktes hineinschauen und herausfinden, was wird das nächste Thema sein, das den Markt interessiert?

Welche Eigenschaften sollte ein guter Fondsmanager mitbringen?


Bei mir ist Neugierde die dominante Eigenschaft. Ich war sieben oder acht Jahre alt und saß mit meiner Familie, meinen fünf Geschwistern am Frühstückstisch. Da ermahnte mich meine Mutter: Bei Tisch wird nicht gelesen. Ich erwiderte: Dann lese ich eben die Schrift auf der Haferflockentüte. Diese Neugier ist unverändert. Ich kann Dinge nicht einfach beim Namen akzeptieren, sondern muss sie hinterfragen.

Wie kann das aussehen?


In Runden, in denen Unternehmensmanager interviewt werden, fragen die Analysten von Brokerhäusern klassisch nach den Gewinnschätzungen und Margen fürs nächste Quartal. Ich frage vielmehr: Sind Sie mit der Forschung weitergekommen? Gibt es neue große Kunden? Damit ernte ich häufig Erstaunen, dass ich nicht nach den Gewinnen oder dem Börsenkurs frage, sondern wissen will, wie das Geschäft funktioniert. Das bringt richtig was.

Über das nächste Quartal hinaus …


Wissen Sie, zu uns kam mal ein Kunde, der sagte: Ich will Aktien kaufen, die zehn Jahre lang halten, auch wenn die Welt zusammenbricht. Ein Kurs-Buchwert-Verhältnis hilft mir hier nicht weiter. Sondern ich muss überlegen, ob es die Firma in zehn Jahren noch gibt, ob das Management gut ist. Das hat uns geprägt. Bis dahin haben wir angenommen, wir müssen regelmäßig umschichten und brauchen einen monatlichen Investmentrhythmus. Das habe ich auch ein paar Jahre lang gemacht. Aber im Prinzip ist es nicht notwendig.

Sie haben früh in Bitcoin investiert. Halten Sie aktuell noch Positionen?


Ja, wir haben aktuell etwa 5,5 Prozent Bitcoin- und Ethereum-Anteil im Fonds Acatis Datini Valueflex. Außerdem halten wir dort die Aktie der Kryptobörse Coinbase mit knapp einem Prozent. Und ich überlege aufzustocken. Denn die Story ist nach wie vor intakt: Bei Bitcoin ist das Angebot begrenzt, die Nachfrage tendenziell unbegrenzt. Auch die Produkteigenschaften sind unverändert und so ähnlich wie bei Gold: Fungibilität, Teilbarkeit, universelle Bekanntheit. Darüber lagern sich Sondereffekte wie aktuell Russland. Ich will jedenfalls noch lange investiert bleiben.

Angesichts des Ukraine-Kriegs -haben viele dem Bitcoin eine stärkere Kursentwicklung zugetraut. Warum ist das nicht passiert?


So richtig verstehe ich es auch nicht. Die Logik hätte dafür gesprochen. Alle Schurkenstaaten müssten eigentlich Transaktionen über Bitcoin machen. Ebenso die ehrlichen Bürger in Russland, die ihr Geld vor Herrn Putin schützen möchten. Kurzfristig kommen solche Effekte immer aus der Unterwelt, langfristig werden sie von der breiten Mittelschicht angenommen. Als Mittelständler in Russland wäre ich aktuell froh, wenn ich neben meinem Rubel- auch noch ein Bitcoin-Konto hätte, in das Herr Putin nicht reinschauen kann.

Denken Sie, dass sich der Bitcoin angesichts der enormen Kursschwankungen tatsächlich einmal als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel etabliert?


Es ist nach wie vor ein sehr unreifer Markt, in dem Einzeltransaktionen große Bewegungen auslösen können. Aber das Segment entwickelt sich weiter und verstetigt sich. Dass Bitcoin mal Zahlungsmittel wird, glaube ich nicht. Dafür sind andere Kryptowährungen besser geeignet, Stable Coins etwa oder auf Ethereum basierende Entwicklungen.

Bitcoin bliebe dann die Funktion als Wertspeicher oder für größere, anonyme Überweisungen?


Ja, wobei ich mir keine Illusionen mache, dass die Geheimdienste der Welt nicht analysieren können, was woher kommt.

Ein anderer Punkt ist, dass Kryptowährungen mit hohem Energieverbrauch verbunden sind. Kann ein zunehmend auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Vermögensverwalter wie Acatis dort überhaupt investieren?


Zunächst mal: Bitcoin ist bei uns nicht in den nachhaltigen Fonds enthalten. Und dann betrifft die Kritik mit dem hohen Energieverbrauch auch nur den Bitcoin. Denn der basiert auf einem Proof-of-work-Konzept. Das heißt, es wird mit hohem Rechenaufwand eine Fleißaufgabe erfüllt, an der ich nicht vorbeikomme. Ein Ende des Bitcoins sehe ich, wenn die Ressourcen überbeansprucht werden. Aktuell verbraucht das System etwa so viel Energie wie alle Wäschetrockner dieser Welt zusammen. Sollte es so viel brauchen wie alle Autos dieser Welt, wäre das nicht mehr akzeptabel.

Abgesehen von Kryptowährungen bietet die Blockchain-Technologie noch andere interessante Anwendungen. So könnten zum Beispiel Fondsanteile bequem und kostengünstig über die Blockchain den Besitzer wechseln.


Ja. Darüber spreche ich seit einiger Zeit mit unserer Depotbank. Ich habe ihnen gesagt, sobald ihr das habt, sind wir von der ersten Minute an mit dabei. Die Krux ist: Alle, die diese Größenordnung vom Volumen her anbieten könnten, haben kein ökonomisches Interesse, dass sich der Status quo ändert. Denn wenn wir direkt handeln, ist der Makler überflüssig. Auch von der regulatorischen Seite betrachtet, ist es noch schwierig. Generell denke ich, dass sich die Welt in diese Richtung bewegen wird. Aber noch ist es ein paar Jahre zu früh.

Noch mal zurück zum Thema Nachhaltigkeit: Wie ist Acatis in dieser Hinsicht aufgestellt?


In unseren nachhaltigen Fonds befindet sich mittlerweile das meiste Anlagevolumen. Hier fahren wir eine doppelte Strategie: In den Artikel-8-Fonds haben wir die Themen ausgeschlossen, die unsere Kunden - basierend auf einer Umfrage - nicht haben möchten. Zum Beispiel Tierversuche oder missbräuchliche Kinderarbeit. In unseren Fair-Value-Fonds gehen wir eine Stufe weiter. Die Unternehmen in diesen Fonds sollen auch einen Beitrag zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen leisten. Und demnächst nehmen wir noch eine dritte Stufe dazu, die ziemlich innovativ ist: Wir machen unsere Fonds klimaneutral.

Wie muss ich mir das vorstellen?


Angenommen, ich habe eine Amazon-Aktie, und Amazon verursacht zehn Tonnen CO2. Dann würden wir zehn Verschmutzungsrechte der EU kaufen und an eine Stiftung spenden, die die CO2-Zertifikate in ein Konto legt und nicht wieder anfasst. Damit habe ich die Verschmutzungen, die auf meine Portfolio-Firma entfallen, dem allgemeinen Markt entzogen.

Aber da kommen Kosten auf Sie zu.


Richtig. Es geht für uns deshalb zunächst darum, die Kosten zu senken. Erst einmal haben wir die CO2-Fußabdrücke der Fonds verkleinert. Die laufenden Kosten wären bis vor Kurzem bei vielleicht 0,6 bis 0,8 Prozent pro Jahr gewesen. Durch Umschichtungen sind wir inzwischen bei 0,2 Prozent. Das machen wir mit einem Kniff: Wir kaufen für jeden Anteil, den wir stilllegen, einen Anteil, den wir behalten. Von dem gehaltenen Anteil erwarten wir, dass er im Wert steigt, so dass wir unterm Strich plus minus Null herauskommen. So können wir eine Klimaneutralität erreichen, ohne dass es die Fonds zu sehr belastet.

Sie kaufen die normalen EU-Verschmutzungsrechte?


Genau. Ich bin ein großer Freund der Marktwirtschaft. Wenn ich den Preis erhöhe, passieren plötzlich die tollsten Dinge. Und wir erhöhen den Preis, indem wir Verschmutzungsrechte stilllegen.

Das ist der Nachhaltigkeitsansatz à la Acatis?


Ja. Bei Nachhaltigkeit habe ich sehr klare Überzeugungen. Dann gibt es unsere Kunden und Ratingagenturen mit anderen Überzeugungen. Und es gibt die Aufsichtsbehörden mit wiederum eigenen Konzepten. Und mit Erschrecken sehe ich die Widersprüche in all dem. An keiner Stelle im ganzen Prozess messen wir effektiv den Impact, den wir verursachen, sondern immer nur die guten Absichten. Und gute Absichten sind etwas ganz Furchtbares, weil sie häufig in die völlig falsche Richtung führen. Kurzum: Wir machen das, weil es state of the art ist, aber ich hätte gerne ein anderes System, das die Auswirkungen misst und nicht nur für Wohlgefühl sorgt.

Kommen wir zu den Märkten: Der Ukraine-Krieg hat für eine komplett neue Situation gesorgt. Wie sehen Sie die Lage bis Jahresende?


Ich denke, wir werden am Jahresende höhere Kurse sehen als am Jahresanfang. Aber aus schmutzigen Gründen, um es mal so zu sagen. Ich sehe erhebliche Verwerfungen in der Wirtschaft, die dazu führen, dass die Preise steigen und die Firmen gute Gewinne erzielen. Meine These ist, dass die Unternehmen zuerst in unverschämter Weise die Preise anheben und die Kosten später nachkommen. Dieses Jahr haben wir also eine inflationsverzerrte Gewinnsteigerung. Außerdem: Das Geld, das ins Militär fließt, schafft erst mal Arbeitsplätze und treibt die Wirtschaft an. Im Moment greift jeder kräftig zu, aber die strukturellen Verwerfungen kommen zeitversetzt und werden wehtun.

Zu den aktuellen Verwerfungen gehören ja die Corona-Lockdowns in China. Denken Sie, dass Peking seine Null-Covid-Strategie wirklich durchhalten kann?


Nein, das glaube ich nicht. Ich habe eine Hypothese, auf der auch mein Engagement beim Impfstoffhersteller Biontech beruht. Die Chinesen haben bisher nur heimische Impfstoffe zugelassen. Aber irgendwann wird der Druck so groß, dass sich die Tür für mRNA-Impfstoffe öffnen wird. Es gibt einen mRNA-Impfstoff, der im Land produziert wird. Aber daneben könnte die Regierung noch einen ausländischen zulassen, der natürlich in China gefertigt wird. Dann kommt die große Impfwelle, und das Thema ist vorbei. Biontech könnte dann eine weitere Milliarde Impfstoffdosen absetzen. Aber an dem Punkt sind wir noch nicht.

Was erwarten Sie von der Geldpolitik bis Jahresende?


Wenig. Die Amerikaner werden in Trippelschritten die Zinsen anheben. Aber ein Prozent Zinsen sind auszuhalten. Die EZB muss folgen, um den Zinsabstand und die Wechselkursdifferenz nicht zu groß werden zu lassen. Sonst fließt das Geld in Richtung USA. Daneben sehe ich aber Stützungsaktionen. Denn die EZB kann unsere Wirtschaft wegen des Kriegs nicht niedergehen lassen.

Muss die Geldpolitik die Inflation nicht härter bekämpfen?


Die Inflation lässt sich nicht mit einer Zinserhöhung runterfahren. Es ist schließlich nicht so, dass die Temperatur der Maschine gesenkt werden muss. Es ist Sand im Getriebe. Da ist mit Zinsänderungen wenig zu erreichen.

Unter anderem sind derzeit Rohstoffe knapp. Interessiert Sie das Thema aus Investorensicht?


Nicht so sehr. Ich denke, dass man mit Rohstoffen langfristig nicht wirklich reich werden kann. Bei der aktuellen Lage bin ich überzeugt: Sollte sich die Situation in der Ukraine überraschend drehen, etwa durch ein Friedensabkommen, werden die Rohstoffpreise kollabieren.

Wird man Russland, auch nach einem möglichen Friedensabkommen, noch trauen können?


Nein. Das Land hat sich aus der westlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Nahbild ist, dass sich Russland stärker nach China und Indien ausrichtet. Aber ökonomisch gesehen ist Russland durch die Invasion verarmt. Das Land ist riesig und hat lange Grenzen, aber nur eine Volkswirtschaft von der Größe Portugals. Es leistet sich ein Militär, das es sich nicht leisten kann, und hat jetzt noch die Sonderbelastung durch den Krieg. Ein Zerfall Russlands in den nächsten Jahren ist nicht ganz ausgeschlossen. Sie müssen überlegen: Deutschland hat eine Handvoll Kriegsschiffe, die einsatzbereit sind. Russland hat eine Flotte, die über die Weltmeere segelt, und das bei einer schwachen Wirtschaft. Langfristig kann das nicht funktionieren.

Sie gelten als moderner Value-Investor, der die Anlageideen Warren Buffetts weiterdreht und auf ein neues Fundament hebt. Wie würden Sie Ihr Konzept beschreiben?


Ein wichtiges Thema ist für mich, dass Buffett oft falsch verstanden wird. Es heißt oft, Buffett sucht nach Schnäppchen und kauft billig ein. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. In Buffetts Geschäftsbericht von 1989, der zum 25-jährigen Firmenjubiläum erschien, heißt es: Wenn du billig kaufst, wirst du für gewöhnlich einen netten Wertzuwachs haben. Aber das war’s dann auch. Buffett sagt: Du bist unklug, wenn du das machst. Du solltest Unternehmen kaufen, die auf guten Geschäftsmodellen beruhen und gut geführt werden. Diese Aspekte sind nach wie vor gültig. Darum fragen wir uns immer, wenn wir investieren: Wird diese Firma in zehn Jahren noch existieren und stärker und profitabler sein? Es gibt Untersuchungen, die besagen: Von den Zig-tausend Unternehmen, die es jemals gab, haben nur 1000 einen nennenswerten Wert geschaffen. Die muss ich finden.

Sie suchen aber nach anderen Unternehmen als Buffett.


Ja, Buffett ist aufgrund seines Alters in traditionellen Branchen unterwegs. Das sind durchaus gute Branchen wie zum Beispiel Eisenbahnen. Die werden auch in 100 Jahren noch da sein, aber das Wachstum beträgt dann nicht mehr zehn Prozent, sondern nur noch zwei Prozent. Darum suche ich andere Unternehmen. Aber der Grundgedanke ist der gleiche wie bei Buffett: Ich möchte Profite sehen, wenig Kapitaleinsatz und einen Markt, der noch nicht erschlossen ist.

Welche Titel sind denn nach Ihren Maßstäben Value?


Mein Paradebeispiel ist Biontech. Wir haben die Aktie gekauft, als absehbar war, dass Gewinne kommen. Zu diesem Zeitpunkt war sie unglaublich billig mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von unter drei. Damals ist mir aufgefallen, dass sie weder von Research-Häusern noch von der Welt beachtet wurde. Für mich war der Gegenwert unmittelbar ersichtlich, dazu brauchte ich nicht mal einen Taschenrechner. Das habe ich auf einer Serviette ausgerechnet. Ein anderes Beispiel ist Fortescue Metals, ein australischer Eisenerzproduzent. Wir haben ihn gekauft wegen seiner Wasserstoffinvestition. Das Unternehmen sagt: Mit unserer billigen Sonne können wir Wasserstoff für die Welt zu extrem günstigen Preisen produzieren. Die Firma ist grottenbillig. Ich habe die Zukunft im Portfolio und nichts dafür ausgegeben.

Vita: Value-Investor 2.0
Hendrik Leber, geboren 1957 in Essen, studierte Betriebswirtschaft. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der Unternehmensberatung McKinsey und beim Bankhaus Metzler. 1994 gründete er in Frankfurt die Acatis Investment. Kernkompetenz des selbstständigen Vermögensverwalters ist das wertorientierte Anlegen (Value Investing) nach Benjamin Graham und Warren Buffett. Den Ansatz erweiterte Leber auf Titel der Gesundheits- und Technologiebranche. Acatis verwaltet in Publikums- und Spezialfonds ein Vermögen von mehr als 13 Milliarden Euro.