Die westlichen Sanktionen gegen Russland und die immer schärfere Rivalität zwischen den USA und China könnten eine kriegerische Eskalation zur Folge haben, sagt der emeritierte Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Uni Bonn, Erich Weede, in einem Interview mit der "Wirtschaftswoche". Darin warnt der 80-jährige Wissenschaftler vor weiteren Handelsbeschränkungen und stellt dem die These entgegen: "Kapitalismus schafft Frieden"

"Wirtschaftliche Freiheit macht Kriege unwahrscheinlich" - diese These vertritt der Bonner Soziologe Erich Weede. Gerade der Russland-Ukraine-Krieg bestätige diese These, sagte Weede jetzt in einem Interview mit der "Wirtschaftswoche". Denn die beiden Länder hätten sich in den vergangenen Jahren wirtschaftliche voneinander entfremdet, die gegenseitigen Handelsbeziehungen seien schon vor Ausbruch des Krieges stark gesunken. Und weder in der Ukraine noch in Russland hätten wirtschaftliche Freiheit jemals einen hohen Stellenwert gehabt.

Dagegen sei Russland immer geprägt gewesen von Autarkie und Protektionismus, und habe im Gegensatz zu Ländern wie Japan, Südkorea, Deutschland oder den Niederlanden nie zu einem Freihandelssystem gefunden. Gleichzeitig hätten im Ukraine-Konflikt die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Russland mittlerweile die Dimensionen eines Wirtschaftskriegs erreicht, die den westen de facto zur Kriegspartei gemacht haben, obwohl er das völkerrechtlich nicht sein will, erläuterte der gebürtige Hildesheimer Weede (80).

Das Risiko einer kriegerischen Eskalation zwischen dem Westen und Russland sei deshalb höher als die meisten Politiker glauben. Russlands Präsident Wladimir Putin sehe inzwischen den Westen auch als eigentlichen Kriegsgegner, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi nur als "lokalen Spieler". Russland werde nicht aufgeben, sondern notfalls taktische Atomwaffen einsetzen. Dem Westen bliebe die Aufgabe der Ukraine, oder die militärische Option, Ziele in Russland anzugreifen. Damit rücke der Atomkrieg in Europa "sehr, sehr nahe". Deshalb werde der Westen wohl eher die Ukraine aufgeben, sagt Weede, zu dessen Forschungsschwerpunkte neben Wirtschaftswachstum, Einkommensverteilung und Gewaltanfälligkeit unter anderem auch Kriegsverhütung und Kriegsursachen zählen. Weede ist seit 2004 emeritierter Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Uni Bonn.

Der Wissenschaftler kritisierte in dem Interview auch Handelsbeschränkungen wie beispielsweise das Lieferkettengesetz, da sie ebenfalls das globale Kriegsrisiko eher erhöhten. Unternehmen würden dadurch überfordert, aber auch die Aufholchancen von Entwicklungsländern verschlechtert. Das wiederum erhöhe den Migrationsdruck, beispielsweise nach Europa.

Zumindest räumt Weede ein, dass die harte Haltung des Westens gegenüber Russland derzeit China davon abhalten könnte, Taiwan zu attackieren. Allerdings sei das nur eine Frage der Zeit, bis China den Westen an Wirtschaftskraft überholt habe. Taiwan sei für den Westen nicht auf Dauer gegen China zu halten. "Ich fürchte, die Welt geht schlimmen Zeiten entgegen", lautet Weedes düsteres Fazit.

ehr