Herr Lindner, Sie gehören zu den wenigen Politikern in Deutschland, die das Wort Börse in den Mund nehmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Was läuft falsch in unserem Land?

Christian Lindner: Wir haben leider in Deutschland nicht sehr viel Wirtschaftsfreundlichkeit, teilweise auch wenig Wirtschaftsverständnis. Die Börse ist nichts Böses. Mit der Börse ist die Chance verbunden, dass eine große Zahl von Menschen Anteile an Unternehmen erwerben kann. Leider waren die sogenannten Volksaktien in den vergangenen Jahrzehnten nicht so erfolgreich, dass daraus eine breitere Bewegung entstanden wäre. Aber es tut sich etwas. Im vergangenen Jahr haben viele Tausend Menschen die Börse entdeckt. Das ist eine gute Nachricht. Einerseits, weil es jetzt mehr Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge gibt. Andererseits, weil die Menschen sich nicht mehr allein auf die gesetzliche Rente verlassen, sondern an ihrer eigenen wirtschaftlichen Unabhängigkeit arbeiten wollen. Dieses zarte Pflänzchen Aktienkultur sollten wir gießen, damit es wächst und gedeiht.

In Norwegen wird ein Teil der Altersvorsorge über einen Staatsfonds abgedeckt. Wäre das nicht auch eine Idee für Deutschland?

Genauso stellen wir uns das vor. Wir haben unlängst den Vorschlag einer gesetzlichen Aktienrente gemacht. Das bedeutet, dass nicht alles in ein Umlagesystem fließt. Umlagesystem heißt ja, dass alles, was eingezahlt wird, sofort wieder hinausgeht. Ein Teil des Rentenbeitrags sollte als öffentlich organisierte und verantwortete Anlage in den Kapitalmarkt fließen. Das würde den Kapitalstock stärken. Wir haben zwar in Deutschland rund 2,5 Billionen Euro in Lebensversicherungen, Versorgungswerken und Ähnlichem, aber deren Anlagepolitik ist stark auf Immobilien und Staatsanleihen fokussiert. Die Staatsanleihe gilt als risikofrei, Fonds und einzelne Unternehmen hingegen als hochriskant. Das können wir ändern - und bekommen noch zusätzliches Investitionskapital, beispielsweise für Start-ups.

Vor allen Dingen würde dann auch mehr deutsches Geld in deutsche Aktien fließen. Im Moment überlassen wir deutsche Unternehmen ja vor allem Ausländern.

Natürlich wäre es begrüßenswert, wenn der Streubesitz der DAX-Unternehmen nicht mehrheitlich in ausländischer Hand läge. Nur: Wir sind eine alternde Gesellschaft. Deshalb empfiehlt es sich, dass wir unsere Altersvorsorge nicht nur im Inland anlegen, sondern international streuen. Der kanadische Pensionsfonds investiert schließlich auch in attraktive deutsche Unternehmen.

Im Jahr 2000 zählte noch ein gutes Dutzend deutscher Konzerne zu den Top 100 der wertvollsten Unternehmen der Welt. Inzwischen ist kein einziges mehr in dieser Rangliste vertreten. Man hat das Gefühl: Da muss sich was ändern. Aber was?

Wir müssen wieder zu einer Orientierung auf unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere wirtschaftliche Stärke kommen. Auch wir haben viele soziale Anliegen und ökologische Ziele. Aber das bleiben Träumereien, wenn die wirtschaftliche Grundlage nicht stimmt, sonst können wir das nicht finanzieren. Wohlstand muss erst erwirtschaftet werden, bevor man ihn verteilen kann. Also brauchen wir eine Politik, die unsere Standortbedingungen und die Attraktivität für Investitionen im Inland verbessert. Wir sind ein Höchststeuerland, sowohl für die Beschäftigten als auch für die Unternehmen - das geht voll zulasten der Möglichkeit, privat vorzusorgen. Also bitte jetzt keine Steuererhöhungsdiskussion. Vielmehr sollten wir entlasten.

Was würde die FDP im Fall einer Regierungsbeteiligung tun?

Wir müssen Bürokratie abbauen. Noch nicht einmal für regenerative Energien sind Flächen da, die Genehmigungsverfahren sind zu langwierig. Der Vorstandsvorsitzende eines DAX-Konzerns hat mir kürzlich anvertraut, dass ein Projekt zur Dekarbonisierung - ein großer Offshore-Windpark - wegen Mängeln bei Planung und Tempo nicht umsetzbar war. Was ist die Folge? Das Unternehmen investiert jetzt in Großbritannien. Das muss doch bei uns stattfinden! Daher: schneller planen, Bürokratismus reduzieren.

Die Pandemie hat viele Schwachstellen in unserem Land brutal aufgedeckt, besonders die Defizite in Sachen Digitalisierung. In den Schulen machen wir mehr oder weniger alles noch handschriftlich und mit der Kreidetafel. Wie wollen Sie das angehen?

Das war schon vor der Pandemie in der Flüchtlingskrise so: Etliche Probleme kamen daher, dass die Behörden mit dem Faxgerät kommuniziert haben. Wir brauchen ein Digitalministerium im Bund, das die gesamte Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und der Schulen in die Hand nimmt. Wir brauchen die passende Infrastruktur, also Glasfaser und 5G. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Beschäftigten in der Digitalisierung mithalten können, wenn der Arbeitsplatz sich verändert. Es muss also ein großes Weiterbildungsangebot geben, damit die Digitalisierung für jeden - auch in der Mitte des Lebens - eine Chance ist und niemand sie fürchten muss.

Kommen wir auf die Börse zurück: Wäre es denn Ihrer Meinung nach sinnvoll, die Spekulationsfrist wieder einzuführen?

Das ist nicht nur sinnvoll, sondern absolut notwendig. Wenn man ein Wertpapier kauft und über einen längeren Zeitraum hält, sollte der Veräußerungserlös steuerfrei sein. Das macht die langfristige Aktienanlage attraktiv und hat nichts mit Spekulation zu tun. Viele Anleger, die jetzt neu an die Börse gekommen sind, werden feststellen, wenn sie verkaufen: Huch, da wird ja automatisch Steuer einbehalten, mein Gewinn ist gar nicht so hoch. Wir müssen außerdem die Freibeträge erhöhen, die seit Jahren nicht angepasst wurden. Und noch ein wichtiger Punkt zur Vermögensbildung: Wir möchten, dass man mit einem normalen Einkommen die Chance bekommt, am Ende des Berufslebens das Haus oder die Eigentumswohnung abbezahlt zu haben. Hier darf der Staat nicht mehr so stark zugreifen. In manchen Bundesländern haben wir 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer. Folge: Viele Menschen können keine Hypothek aufnehmen, weil sie das Eigenkapital nicht zusammenbekommen, sondern es komplett beim Fiskus für die Grunderwerbsteuer abgeben müssen. Auch da sollte es für die selbst genutzte Immobilie einen Freibetrag von 500 000 Euro pro Kopf geben.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz setzt ja vehement auf sein Sparbuch. Worauf setzt Christian Lindner? Auf ETFs, auf Aktien, auf Oldtimer oder auf eine gute Flasche Wein?

Alles spannende Assetklassen, von denen einige sehr viel Genuss versprechen. Ich setze auf Immobilien als Basis und auf die monatliche Anlage in mehrere ETFs und mache mir damit den Cost-Average-Effekt zunutze.

Warum werfen Sie Ihren Hut nicht offiziell als Kanzlerkandidat in den Ring?

Ich glaube, den Fernsehsendern fiele irgendein Grund ein, warum ich bei bestimmten Debatten nicht dabei sein kann, selbst wenn ich Kanzlerkandidat wäre. Ich bin da sehr realistisch und glaube, dass das Modell des Kanzlerkandidaten irgendwie aus der Zeit gefallen ist. Heute ist die Konstellation viel wichtiger. Schwarz-grün ohne FDP, da würden die Grünen die CDU treiben, das machen sie ja jetzt schon vor der Wahl. Grün-rot-rot würde zu einem Land führen, das ganz anders ist als das Deutschland der sozialen Marktwirtschaft. Und deshalb ist nicht das Wichtigste, wer Kanzler wird. Das Wichtigste ist, dass die FDP gebraucht wird, damit das Land weiter aus der Mitte regiert wird. Dazu muss ich nicht Kanzlerkandidat sein.

Dann kommen wir mal zur Schnellfragerunde. Gold oder Bitcoin?

Zurzeit muss man sagen: Hoffentlich nicht zu viel Bitcoin gehabt. Also Gold.

Lieber Mitglied in der CDU oder in der SPD?

Aua. Skylla oder Charybdis? Wenn man nur diese Auswahl hätte und es die FDP noch nicht gäbe, müsste man sie gründen.

Porsche oder Fahrrad?

Das kommt darauf an. In einer Woche, in der ich mich wenig bewege, ist das Fahrrad empfehlenswert, damit die Hosen noch passen. Aber der Porsche an einem schönen Sonntag … ich habe ein altes Auto, das ich nicht jeden Tag fahre, sondern vielleicht 500 Kilometer im Jahr, insofern ist das beinahe eine Assetklasse. Für mich ist Autofahren so etwas wie für andere das Reiten: etwas Besonderes.

Fitnessstudio oder Couch?

Kommt auch darauf an, aber leider öfter Couch.

Aktien von Apple oder BASF?

Nichts gegen BASF, aber in dem Fall Apple.

Lockdown oder freies Geleit?

Freies Geleit.

Finanzminister oder Außenminister?

In beiden Ämtern gibt es viel zu tun, aber ich persönlich glaube, dass ich bei den Finanzen besser aufgehoben wäre.

Abschließend eine Frage, mit der Sie im September sicher konfrontiert werden: Lieber nicht regieren als schlecht regieren?

Wenn man gut regieren kann, darf man das Land nicht anderen überlassen. Es kommt immer auf die Lage an. Wenn wir etwas aus unserem Programm umsetzen können, sind wir natürlich gerne dabei. Und ich glaube, dass die Chance diesmal besser ist als vor vier Jahren, weil die Konstellation eine andere ist und auch die Persönlichkeiten andere sind. Wir hätten Freude daran.