von Dirk Heß, Co-Leiter des europäischen Warrants- und Zertifikatevertriebs bei der Citigroup

Es hat schon Tradition. Jedes Mal, wenn der Mai ins Land zieht, erlebt eine Börsenweisheit Hochsaison: "Sell in May and go away…" Folgt man dem Spruch, müsste man seine Aktienpositionen jetzt verkaufen, den Sommer über im Standby-Modus verharren und erst wieder im September an die Börse gehen ("…but remember to come back in September"). Tatsächlich zeigt die Statistik, dass der Mai in Vergangenheit relativ häufig mit einer schwachen Börsenentwicklung auffiel. Beim DAX zum Beispiel liegt die durchschnittliche Performance im fünften Monat des Jahres bei minus 0,15 Prozent (zurückgerechnet bis 1959), beim US-Leitindex Dow Jones sogar bei minus 0,40 Prozent (seit seiner ersten Publizierung im Jahr 1896).

Auf die Parameter kommt es an

Doch sind solche Statistiken tatsächlich ein Grund, der Sell-in-May-Regel stur Folge zu leisten? Studien zu dieser Frage gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Und die Ergebnisse fallen zum Teil sehr unterschiedlich aus. Das hat damit zu tun, dass den Untersuchungen zum Teil sehr unterschiedliche Parameter zugrunde liegen. Dazu gehört zum Beispiel der genaue Zeitpunkt des Wiedereinstiegs. Auch hängen die Ergebnisse stark davon ab, ob Transaktionskosten berücksichtigt werden, wie weit der Betrachtungszeitraum zurückreicht oder ob Dividenden berücksichtigt werden. Die US-Beratungsgesellschaft CXO Advisory Group wollte es ganz genau wissen und hat die saisonale Performance des US-Aktienmarktes seit 1871 unter Berücksichtigung fünf verschiedener Parameter berechnet. Das Ergebnis: In jedem Szenario hätte eine Haltestrategie (Buy-and-Hold) für den Anleger bessere Ergebnisse geliefert als die "Sell in May"-Vorgabe (Studie: "Sell in May - Over the Long Run" vom April 2013). Doch auch hier gibt es einen Haken: Als Monat für den Wiedereinstieg legten die Datenexperten nämlich nicht den September, sondern den Oktober zugrunde.

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Kein Automatismus

Studien zur Sell-in-May-Regel hängen also auch immer vom Blickwinkel ab. Hinzu kommt, dass historische Betrachtungen bekanntlich keinen verlässlichen Indikator für zukünftige Entwicklungen darstellen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel gehörte der Mai mit einem Plus von 3,5 Prozent zu den besten Monaten des Jahres. Für Anleger heißt das: Das "Sell-in-May"-Gebot kann zwar ein Kriterium für eine Investment-Entscheidung darstellen, sollte aber niemals einem Automatismus folgen. Stattdessen ist es ratsam, auch aktuelle fundamentale und charttechnische Faktoren in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen.

Mai 2015: Stützende Faktoren

Bleibt die Frage, was in diesem Jahr vom Mai (und den folgenden Monaten) zu erwarten ist? Was deutsche Aktien betrifft, sind diese bereits sehr gut gelaufen und sicherlich kein Schnäppchen mehr. So ist der DAX aktuell mit einem Index-KGV von 15,4 bewertet. Angesichts der zum Teil negativen Zinsen bei Bundesanleihen ist eine weitere Bewertungsausdehnung allerdings nicht auszuschließen. Auch das QE-Programm der EZB, über das Monat für Monat Euro-Staatsanleihen im Volumen von 60 Milliarden Euro angekauft werden, spricht tendenziell für Aktien.

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Atempause für den DAX

Trotz dieser stützenden Aspekte könnte es für den deutschen Leitindex im weiteren Jahresverlauf aber schwierig werden, an die Aufwärtsdynamik der ersten Monate dieses Jahres anzuknüpfen. Vieles wird davon abhängen, wie sich die Unternehmensgewinne entwickeln. Große positive Überraschungen sind hier - zumindest in der Mehrzahl - aber nicht zu erwarten. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass der DAX seine jüngst eingeleitete Konsolidierungsphase noch eine Weile fortsetzt. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Umfrage des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) unter den Analysten von 19 deutschen Bankhäusern. Die Durchschnittsschätzung sieht den DAX zum 30. September 2015 bei rund 11.900 Punkten stehen, also leicht über dem aktuellen Niveau. Verkaufen (Sell in May) muss man deswegen gleich nicht. Zukaufen muss aber auch nicht zwingend sofort sein.