Die baltischen Länder, hierzu zählen Estland, Lettland und Litauen, inklusive der dortigen Börsen sind zwar in vielerlei Hinsicht relativ klein. Es wohnen dort zusammengerechnet lediglich rund 6,15 Millionen Menschen, was nur gut viermal so viel ist wie die Einwohnerzahl Münchens. Zudem beträgt die Fläche mit gut 175 000 km² weniger als die Hälfte der von Deutschland. Gemessen an der geringen Größe haben diese Länder aber viel geleistet. Manche erinnern sich vielleicht noch an die Singende Revolution im Jahr 1989, die dann 1991 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion brachte. Hinzu kommt das Wirtschaftswunder in den 1990er-Jahren sowie eine Vorreiterrolle bei der Digitalisierung.

Die Deutsch-Baltische Handelskammer billigt den drei Staaten erstklassige Investitionsplattformen mit hoch entwickelten Industrien und Technologien zu. Das bedeutet zwar nicht, dass es keine Probleme gibt, wie etwa ein noch relativ hohes Maß an Korruption und Schattenwirtschaft belegen. Aber unter dem Strich darf man stolz sein auf das Erreichte. Im Vergleich mit anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion stehen diese Länder jedenfalls um Längen besser da. Dazu genügt ein Blick auf das an Lettland und Litauen angrenzende Belarus. Auch die Performance an der Börse kann sich sehen lassen. So kommt der OMX Baltic Benchmark Index seit Beginn der noch laufenden Hausse in den USA am 9. März 2009 bis heute auf ein Plus von 746 Prozent. Den DAX hat er damit abgehängt.

Übersichtliche Auswahl

Baltische Aktien finden bei deutschen Anlegern trotzdem wenig Beachtung. Der Grund dafür liegt in der fehlenden Markttiefe und -breite. So beträgt die Anzahl der gelisteten Aktien nur 69 und die gesamte Marktkapitalisierung beläuft sich auf lediglich 11,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: DAX-Neuling Brenntag kommt allein auf einen Börsenwert von rund zwölf Milliarden Euro.

Dennoch sind die baltischen Börsen, zumindest für Pioniere unter den Fans von echten Nebenwerten, ein spannendes Tummelfeld. Punkten kann die Region zunächst einmal mit der Aussicht auf ein weiterhin im Schnitt ansehnliches Wirtschaftswachstum. So rechnet die Erste Bank für 2022 mit BIP-Zuwächsen zwischen 3,6 und 5,0 Prozent. Zumindest sind die volkswirtschaftlichen Aussichten dann gut, wenn die Corona-Pandemie oder auch die Inflation keinen Strich durch die Rechnung machen. Denn damit hat auch das Baltikum-Trio zu kämpfen.

Wer intensiv recherchiert, kann außerdem noch einen Wettbewerbsvorteil herausarbeiten. Es gibt jedoch nur wenig Analysten-Research zu baltischen Aktien. Dem weltweiten Zeitgeist entsprechend hat aber seit dem Ausbruch der Pandemie das Interesse der Privatanleger vor Ort erheblich zugenommen. Wobei diesen neuen Trend auch regionale Faktoren mit begünstigen. "Die Handelsvolumina sind seit 2020 um ein Vielfaches gestiegen als zwei große Banken begannen, den provisionsfreien Handel an den baltischen Börsen anzubieten", berichtet Julia Bistrova von Alphinox Quality AS.

Außerdem verweist die Partnerin bei dem in Riga ansässigen Research-Center des Schweizer Vermögensverwalters Hérens Quality Asset Management auch darauf, dass es in Estland dieses Jahr eine Rentenreform gab, die eine Entnahme und Selbstverwaltung von Geldern aus der zweiten Säule des Rentensystems erlaubte. Während einige das Geld ausgaben, floss ein Teil auch in lokale Aktien.

Bewertungen moderat

Angefacht hat die Nachfrage darüber hinaus eine Welle von Börsengängen in den baltischen Ländern. "In diesem Jahr haben wir einen absoluten Rekord an Börsengängen zu verzeichnen. Das estnische Unternehmen für erneuerbare Energien, Enefit Green, hat dabei sogar einen Rekord aufgestellt, da sich über 60 000 Privatanleger beteiligt haben", stellt Bistrova fest. Das Unternehmen ist seit Oktober 2021 an der Börse handelbar und die Ziele sind klar: "Wir möchten das am schnellsten wachsende Unternehmen für erneuerbare Energien in der Region werden."

Trotz einer folglich etwas euphorischen Marktstimmung sind noch keine extremen Übertreibungen zu registrieren. Wie die Vergleichsgrafik auf Seite 18 zeigt, ist die Bewertung im Schnitt attraktiver als bei westeuropäischen Unternehmen.

Nach wie vor ein Manko beim Investieren stellen Corporate-Governance-Schwächen dar, wie auch Bistrova bestätigt: "Das Problem der Unternehmensführung nimmt zwar ab, ist aber immer noch von großer Bedeutung, sodass dies ein Aspekt ist, der vor einer Investition unbedingt geprüft werden muss." Auch vor diesem Hintergrund ergibt es Sinn, sich auf Qualitätsaktien zu fokussieren. Die Suche nach solchen Titeln erleichtert die Tatsache, dass Alphinox seit 2008 die Baltic Corporate Excellence Awards an Unternehmen mit besonders hoher Qualität verleiht.

In die Bewertung fließen dabei quantitative Faktoren wie beispielsweise Stärke der Bilanz, Rentabilität, Kapitaleffizienz, operative Effizienz und Gewinndynamik ein. Berücksichtigung finden zudem qualitative Faktoren wie Geschäftsmodell, Unternehmensführung, soziale Verantwortung, Qualität des Finanzmanagements sowie das Marktumfeld.

Vier top Qualitätsaktien

Unter der taufrischen Qualitätsaktien-Favoritenliste für 2021 gefällt uns die auf Platz 3 zu findende Tallinna Kaubamaja. Dieses Unternehmen, das auch in Sachen Nachhaltigkeit punkten kann, ist im Einzel- und Großhandel tätig, wobei die Gruppe für mehr als ein Zehntel des Einzelhandelssegments in Estland verantwortlich zeichnet. Aber auch Fahrzeughandel, inklusive Ersatzteilen, ist ein Segment. Alphinox lobt, dass Tallinna Kaubamaja trotz Covid-19-Krise nicht nur die Kapazität des Supermarktnetzes erweitert hat, sondern auch die Verschuldung unter Kontrolle halten konnte.

Rang 5 unter den Top-Qualitätsaktien hat die LHV Group inne. Die Gesellschaft, deren Bankdienstleistungen fast 302 000 Kunden in Anspruch nehmen, bezeichnet sich selbst als drittgrößte Bankengruppe in Estland. Sie bietet Bank- und Finanzdienstleistungen für Privatkunden, mittelständische Unternehmen und institutionelle Investoren an. Das erklärte Ziel lautet, auf dem Heimatmarkt in fünf Jahren die Nummer 2 und in zehn Jahren dann die Nummer 1 zu sein. Eine weitere Zielvorgabe ist eine jährliche Eigenkapitalrendite von 20 Prozent. Der konsolidierte Nettogewinn stieg in den ersten neun Monaten 2021 um 88 Prozent auf 40,9 Millionen Euro und erklärt die diesjährige Aktienkurshausse.

Die beiden ersten Empfehlungen können mit intakten, langfristigen charttechnischen Aufwärtstrends aufwarten, und das gilt auch für die beiden nächsten Mitfavoriten. Kauftipp Nummer 3 stammt mit der litauischen Šiauliu Bankas ebenfalls aus dem Bankensektor. Das bei der Kreditvergabe auf kleine und mittlere Unternehmen fokussierte Institut gilt als führende nichtskandinavische Bank in Litauen. Größter Eigentümer ist die EBRD mit 26 Prozent der Anteile. In den ersten drei Quartalen erwirtschaftete sie einen Nettogewinn von 44,2 Millionen Euro (plus 29 Prozent).

Der vierte Mitfavorit heißt SAF Tehnika. Dahinter verbirgt sich ein Hersteller von drahtlosen Datenübertragungsgeräten, der seine Produkte in über 130 Ländern weltweit verkauft. Die Gesellschaft tüftelt an der Weiterentwicklung von Aranet, einer Marke für drahtlose Sensornetzwerklösungen, führt neue Funklösungen ein und entwickelt Lösungen für das IoT-Segment. Trotz Lieferkettenproblemen liefen die Geschäfte zuletzt sehr gut, Das dokumentiert ein im ersten Quartal 2021/22 von 0,13 Euro auf 0,51 Euro gestiegener Gewinn je Aktie. Wegen der niedrigen Umsätze sollten Aufträge streng limitiert werden.