Jedes Mal, wenn John Costiks vierjähriger Sohn in den Kindergarten, zum Fußballtraining oder zu Freunden zum Spielen ging, mussten sich die Eltern darauf verlassen, dass jemand die Blutzuckerwerte des kleinen Diabetikers im Blick hatte - oder sie mussten selbst dabei bleiben. Anderen die Verantwortung zu überlassen fällt schwer, wenn Unter- oder Überzucker lebensbedrohliche Folgen für das Kind haben kann.

Der Softwareingenieur Costik fand nirgendwo eine Lösung für das Problem. Also hackte er den Glukosemonitor seines Sohns. Der auf die Haut geklebte Sensor funkte fortan die Blutzuckerwerte nicht mehr nur an das dazugehörige Display, das maximal sechs Meter entfernt sein durfte, sondern auch an Costiks Laptop, sein Handy oder seine Pebble-Smartwatch. Kurze Zeit später hatte er sein Programm "Nightscout" mithilfe weiterer technikaffiner Diabetiker verbessert und gratis im Internet bereitgestellt. Inzwischen gibt es mehrere Tausend Nutzer weltweit.

Manchmal sind Innovationen so zwingend, dass selbst forschungsstarke Unternehmen von ihnen überholt werden. Im Oktober 2014, eineinhalb Jahre nach dem Start von Nightscout, brachte der Glukosemonitorhersteller Dexcom eine "offizielle" Anwendung auf den Markt. Diese App schickt die Blutzuckerwerte an bis zu fünf iPhones, demnächst auch an die Smartwatch von Apple.



Die umfassende Vernetzung von Sensoren mit medizinischem Nutzen, die am Körper getragen werden, ist ein riesiger Wachstumsmarkt. Die Telemedizin, die sich nie auf breiter Front etabliert hat, könnte mit den neuen, sogenannten Wearables den Durchbruch schaffen. Noch steht die Entwicklung ganz am Anfang, aber Beratungsfirmen wie Mordor Intelligence schätzen, dass sich das Marktvolumen für die tragbaren Diagnostik- und Überwachungsgeräte von 2,8 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr bis 2019 knapp verdreifachen wird.

Auf Seite 2: Anreiz für Ärzte



Anreiz für Ärzte

Die schwierigste Hürde, die es dafür zu überwinden gilt, ist das nötige Zulassungsverfahren für Medizinprodukte. "Viele der heute verwendeten Sensoren und die dazugehörigen Algorithmen arbeiten noch nicht sehr präzise", sagt James Moar, Wearables- Fachmann der Marktforschungsfirma Juniper Research. "Und manche Firmen scheuen grundsätzlich vor den Anforderungen der Zulassungsbehörden zurück."

Verschiedene Fakten sprechen jedoch dafür, dass der Trend gerade beginnt, Fahrt aufzunehmen. Im vergangenen Jahr investierten Venture-Capital-Firmen insgesamt 4,1 Milliarden Dollar in digitale Gesundheitsanwendungen, mehr als in den drei vorangehenden Jahren zusammen. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die staatliche US-Krankenversicherung Medicare Ärzten 2015 erstmals erlaubt, Honorare für die telemedizinische Überwachung von chronisch Kranken abzurechnen. Branchenexperten gehen davon aus, dass die privaten Versicherungen dem Beispiel mittelfristig folgen werden. Das schafft den nötigen Anreiz für Ärzte, sich für den Einsatz neuer Technologien zu engagieren.

Unterdessen stellte die chinesische Regierung im Januar einen Plan zum Aufbau eines einheitlichen nationalen Telemedizinnetzwerks vor. Peking hält telemedizinische Anwendungen angesichts der Größe des Landes für unverzichtbar. Rund 200 Millionen Chinesen sind älter als 60 Jahre, die Hälfte von ihnen lebt weit entfernt von ihren Kindern oder anderen Angehörigen, die sich notfalls um sie kümmern könnten. Gleichzeitig gibt es nur rund sechs Millionen Ärzte und andere Gesundheitsfachkräfte. Das bedeutet, dass Patienten in ländlichen Regionen häufig lange Wege bis zur nächsten Praxis oder Klinik zurücklegen müssen. Der Markt für mobile, digitale Gesundheitslösungen wird in China von 291 Millionen US-Dollar im vergangenen Jahr auf rund zwei Milliarden US-Dollar im Jahr 2017 wachsen, schätzt die chinesische Beratungsgesellschaft iiMedia.

Auf Seite 3: Apple Watch beflügelt die Branche



Der Verkaufsstart der Apple Watch im April könnte der Branche ebenfalls einen Schub geben. Die Smartwatch enthält mit einem Herzfrequenzmonitor und Bewegungssensoren weit weniger Gesundheitshardware als ursprünglich geplant. Trotzdem erschaffen Apple-Produkte erfahrungsgemäß ganz neue Märkte. Und mit der Entwicklerplattform Health Kit hat der Technologieriese eine überzeugende Zentrale für die Integration medizinischer Daten geschaffen, bei der die Privatsphäre des Benutzers oberste Priorität hat. "Um in einem alltäglichen Patientenumfeld zu bestehen, ist die Apple Watch viel zu teuer", sagt James Moar von Juniper Research. Als Wegbereiter der neuen Technologien aber könnte sie gute Dienste leisten.

Ohnehin scheinen die Konsumenten, zumindest in den USA, Telemedizinlösungen gegenüber äußerst aufgeschlossen. Bei den Leistungen, die sie sich von den tragbaren Gadgets wünschen, stehen Gesundheitsthemen ganz weit vorn. Fast 70 Prozent würden die erhobenen Daten sogar an ihre Krankenkasse weiterleiten, wenn sie dafür weniger Versicherungsprämie zahlen müssten. In Deutschland würde das immerhin jeder Dritte tun. Dabei haben die ersten Anwendungen, meist von Start-ups entwickelt, mit delikaten Datenschutzfragen gar nichts im Sinn. Die neuen Wearables überwachen Atmung oder Körpertemperatur von Babys, sie warnen vor Sonnenbrand oder kontrollieren den Blutzuckerspiegel. Der Zukunftsvision am nächsten kommt das auf die Haut aufklebbare "Health Patch MD"-Pflaster der US-Firma Vital Health: Es kann drei Tage lang Daten zu Hauttemperatur, Herz- und Atemfrequenz senden, zählt Schritte und bemerkt Stürze. Solche Hilfsmittel wären für Krankenhauspersonal oder Angehörige von allein lebenden Senioren eine wertvolle Unterstützung.

Auf Seite 4: Präzises Verständnis von Medikamenten



Präzises Verständnis von Medikamenten

Aber auch für Pharma- und Biotechunternehmen eröffnen die Sensoren ganz neue Möglichkeiten. Dabei geht es um klinische Studien, in denen sie Medikamentenkandidaten testen. Die Teilnehmer kommen häufig nur alle paar Tage oder Wochen zum Arzt, um Blutproben abzugeben oder Tests zu absolvieren. Könnten die Hersteller mithilfe von Wearables kontinuierlich Daten von den Patienten erheben, würde das zu einem sehr viel genaueren Verständnis beitragen. Und womöglich bessere Ergebnisse liefern - gerade bei älteren Probanden, die ein Arztbesuch vielleicht anstrengt und die deshalb bei der Untersuchung schlechter abschneiden, als wenn man fortlaufende Messwerte in ihrer gewohnten Umgebung erhoben hätte. Bei einigen Krankheiten sind sogar neue Erkenntnisse zum Krankheitsverlauf selbst denkbar. Die Firma Biogen Idec hat zum Beispiel angefangen, Multiple-Sklerose-Patienten mit einfachen Fitnessarmbändern auszustatten. Biogen möchte prüfen, ob sich aus Aktivitätsmustern Schlüsse ziehen lassen, bei welchen Patienten die Krankheit einen schwereren Verlauf nimmt und bei welchen nicht.

Medizintechnikhersteller sind aufgrund ihrer Erfahrung in der besten Position, vom Wearables-Trend zu profitieren. Unser Favorit Dexcom ist Marktführer bei kontinuierlichen Glukosemonitoren für Diabetiker und überzeugt durch starkes Wachstum. AMS ist als Zulieferer von zahlreichen Sensoren und Dialog Semiconductor wiederum als Bluetooth-Spezialist attraktiv. Chiphersteller Qualcomm ist zwar eines der aktivsten Investoren in Wearables-Start-ups, aber derzeit läuft das Kerngeschäft nicht rund.

Auf Seite 5: Die wichtigsten Zulieferer