Doch nun macht das Coronavirus den Planungen einen Strich durch die Rechnung. In einer Sonderkabinetts-Sitzung am Mittwoch soll die Botschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Minister sein: Ausmisten, priorisieren, neu sortieren. "Angesichts der Corona-Krise müssen wir unsere bisherige Zielsetzung für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 erheblich anpassen", heißt es in einem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Dokument der Runde der Europa-Staatssekretäre der Bundesregierung nur etwas freundlicher.

Die Kanzlerin kündigte das nötige Umdenken bereits am Wochenende mit Blick auf die Coronakrise an. Solange es keinen Impfstoff gebe, werde die Pandemie das Leben in Europa bestimmen, sagte Merkel. "Das heißt also, die deutsche Ratspräsidentschaft wird anders ablaufen, als wir uns das vorgenommen hatten." Im Vordergrund stünden nun die wirtschaftliche Entwicklung und der soziale Zusammenhalt in Europa, fügte Merkel mit Blick auf die schwierigen Verhandlungen über ein riesiges europäisches Wiederaufbauprogramm und den billionschweren EU-Finanzrahmen bis 2027 hinzu. "Es ist richtig, jetzt eine ehrliche Debatte über die nötigen Änderungen zu führen", sagt auch der Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), Bernd Hüttemann.

Immerhin droht die Absage von mehreren informellen EU-Räten, die die Deutschen noch vor der Sommerpause geplant hatten. Zudem zeigen die Corona-Notmaßnahmen, dass die Regierungen radikal umdenken müssen. Merkel und Finanzminister Olaf Scholz haben mehrfach betont, dass alte Verhandlungspositionen der Bundesregierung etwa beim EU-Haushalt überholt seien. Deutschland werde wesentlich mehr in die EU-Kasse zahlen müssen, um besonders von der Pandemie betroffenen EU-Staaten wie Italien zu helfen.

Zudem sorgt die Corona-Krise dafür, dass alle großen Dossiers wie etwa der Abschluss der Gespräche mit Großbritannien über die zukünftigen Beziehungen in das Halbjahr des deutschen EU-Ratsvorsitzes fallen. "Es ist klar, dass uns die Verhandlungen zum EU-Haushalt und dem Wiederaufbaufonds sehr viel Kraft und Zeit abverlangen werden", sagte Europa-Staatsminister Michael Roth zu Reuters. Das wachsende Pflicht-Programm begrenzt das deutsche Kür-Programm. Vorrang hätten deshalb Vorhaben, die "rechtlich verpflichtend bis Ende 2020 behandelt werden müssen", heißt es in dem Papier des Auswärtigen Amtes warnend. Bei allen anderen Themen gelte, dass man eine Vertagung prüfen solle.

DIE KRISE ALS CHANCE


Roth fragt sich allerdings, ob die Corona-Krise wirklich ein Nachteil sei. "Einige der bislang geplanten Prioritäten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sind noch wichtiger geworden", betonte der SPD-Politiker. "Dazu gehören etwa Klimaschutz, Digitalisierung, Rechtsstaatlichkeit und der soziale Zusammenhalt. Wir müssen die Krise nutzen, um die richtigen Weichen zu stellen." All diese Themen standen ohnehin auf der deutschen Prioritätenliste. Nun müsse dafür gesorgt werden, dass beim Wiederaufbaufonds Schwerpunkte bei Klimaschutz, Gesundheitsversorgung und Digitalisierung gesetzt würden.

Auch der von der Kanzlerin gesetzte Schwerpunkt China mit dem geplanten EU-China-Gipfel im September dürfte noch wichtiger werden, sagen EU-Diplomaten. Schon vor der Krise hatte es Klagen gegeben, dass die 27 EU-Länder gegenüber Peking nicht an einem Strang zögen und technologisch zu stark von China abhängig seien. Jetzt kommt zu der hitzigen Debatte über den Einsatz von 5G-Technologie für das Mobilfunknetz die Forderung von EU-Politikern, auch bei der Produktion von medizinischer Schutzausrüstung unabhängiger zu werden. Merkel will deshalb an dem Gipfel festhalten - auch wenn noch niemand weiß, ob er wirklich in Leipzig oder nur digital stattfinden wird.

WAS IST ÜBERHAUPT MACHBAR


Dabei ist noch gar nicht klar, was auf EU-Ebene überhaupt organisatorisch leistbar ist. "Die Notwendigkeit zur Neu-Priorisierung ergibt sich zudem daraus, dass die technischen Kapazitäten für die Beratungs- und Abstimmungsprozesse im Rat im zweiten Halbjahr 2020 voraussichtlich weiterhin erheblich eingeschränkt sein werden, so dass derzeit von einer Reduktion der Sitzungskapazitäten vor Ort in Brüssel um etwa 70 Prozent ausgegangen werden muss", heißt es in dem AA-Papier.

Hüttemann vom EBD, einem überparteiischen Netzwerk, verweist darauf, dass auch die Abstimmungsprozesse zum Problem werden könnten. Fast alle Entscheidungen müssten mittlerweile im sogenannten Trilog-Verfahren getroffen werden - also von EU-Parlament, EU-Kommission und EU-Rat. "Derzeit bestehen noch keine technischen Voraussetzungen für politische Triloge per Videokonferenz", heißt es aber in einem Leitfaden der Ständigen Vertretung in Brüssel für die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, der Reuters vorliegt.

EU-Diplomaten hatten ohnehin geklagt, dass Einigungen ohne die persönlichen Verhandlungen und sogenannte Beichtstuhlverfahren für einzelne Regierungen schwieriger seien. Deshalb wird in der EU schon darüber nachgedacht, ob die EU-Staats- und Regierungschefs nicht doch persönlich zu den schwierigen EU-Finanzverhandlungen nach Brüssel reisen sollten.

rtr