Er hat die Geldpolitik des Euroraums geprägt wie kaum ein anderer: Seit Jahrzehnten genießt Otmar Issing weltweit höchste Anerkennung über die Grenzen der ökonomischen Fachwelt hinaus. Bis heute ist der gebürtige Franke rund um den Globus ein gefragter Redner und Fachautor zu Fragen der Notenbanken und Währungssysteme. Als damaliger Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB) hat Issing 1998 die geldpolitische Strategie der EZB bestimmt. Neben vielen anderen Funktionen stand er der von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufenen Expertenkommission für eine neue Finanzarchitektur vor.

Heute ist der habilitierte Professor Präsident des Forschungsinstituts Center for Financial Studies in Frankfurt am Main. €uro am Sonntag traf Otmar Issing in seinem Haus in Würzburg und sprach mit ihm über digitales Notenbankgeld, die Strategieüberprüfung der europäischen Notenbank und über seine Bilanz des ersten Jahres von Christine Lagarde an der Spitze der EZB.

€uro am Sonntag: Herr Issing, wie sehen Sie die Diskussion um die Modifikation des Inflationsziels der EZB?

Otmar Issing: Die Definition von Preisstabilität als einem durchschnittlichen jährlichen Anstieg der Inflationsrate von unter zwei Prozent war mein Vorschlag an den EZB-Rat im Oktober 1998. Das war kein Inflationsziel, sondern die Formulierung dessen, was die EZB unter Preisstabilität versteht. Denn das Mandat der EZB, im Maastricht-Vertrag niedergelegt, lautet eindeutig, der Auftrag der EZB ist vorrangig, Preisstabilität zu sichern. Und in der Tat steht die Frage, was künftig darunter verstanden wird, im Mittelpunkt der Strategieüberprüfung.

Welche Optionen bestehen?

Die amerikanische Notenbank, Federal Reserve (Fed), hat vor Kurzem die Ergebnisse ihrer Strategieüberprüfung bekannt gegeben. Sie hat sich entschieden, ein durchschnittliches Inflationsziel von zwei Prozent anzustreben. Das heißt, die Fed wird, nachdem jetzt die Inflation einige Jahre unter zwei Prozent lag, eine Überschreitung dieser zwei Prozent nicht nur hinnehmen, sondern im Grunde für eine bisher unbestimmte Periode sogar betreiben.

Was halten Sie davon?

Nach der Entscheidung der Fed stellen sich zwei Fragen. Die eine Frage ist, wie lang soll man zurückgehen, um zu messen, um wie viel Jahre und um wie viel die Inflationsrate von zwei Prozent unterschritten wurde? Offen bleibt auch die Frage, wie lange und bis zu welcher Höhe man ein Überschreiten dulden wird? Das bedeutet, ein solches durchschnittliches Inflationsziel schafft erhebliche Unsicherheit im Markt. Das gilt auch für den Fall, dass die EZB sich für ein solches Ziel entscheiden sollte. Was einerseits sehr viel Flexibilität bietet, bedeutet gleichzeitig sehr viel Unsicherheit.

Was halten Sie von dem Vorwurf, die EZB betreibe mit ihren Anleihekäufen Staatsfinanzierung, vor allem für den Fall, dass sie Anleihen bestimmter Staaten bevorzugt erwirbt?

Zunächst grundsätzlich: Ankäufe von langfristigen Wertpapieren gehören zum Arsenal jeder Notenbank. Früher hieß das Offenmarktpolitik, heute spricht man vom Quantitative Easing. Auf dieses Arsenal wird zurückgegriffen, wenn ein Absturz in die Deflation droht oder die Wirtschaft stimuliert werden soll, bei den Zinsen aber kein Spielraum mehr besteht, weil sie schon bei null oder darunter liegen. Konzentrieren wir uns auf die EZB. Die immens hohen Ankäufe von Staatspapieren durch die EZB werfen in der Tat die Frage nach der verbotenen Staatsfinanzierung auf. Das ist ein Problem, weil einige hochverschuldete Länder in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten kämen, wenn die EZB diese Ankäufe reduzieren oder gar einstellen würde. Die Zinsen bei der Refinanzierung dieser Staaten stiegen dann deutlich. Für die hochverschuldeten Länder wäre das eine gravierende Belastung. Wir sehen, hier besteht eine Nahtstelle zwischen der geldpolitischen Absicht und der indirekten monetären Staatsfinanzierung. Das lässt sich aber nicht eindeutig bestimmen. Eindeutig liegt dagegen der Fall, wenn die EZB bevorzugt Anleihen hochverschuldeter Länder kauft. Im Euroraum kauft die EZB beziehungsweise kaufen die einzelnen Notenbanken Bundesanleihen, italienische Anleihen, Anleihen des französischen Staates und so weiter. Sobald die EZB bevorzugt Anleihen von hochverschuldeten Ländern kaufen würde, wäre das nach meinem Urteil, und damit stehe ich weiß Gott nicht allein, eindeutig ein Überschreiten der Grenze zur Staatsfinanzierung, die der EZB nach dem Maastricht-Vertrag aus guten Gründen verboten ist.

Halten Sie es für sinnvoll, dass die Notenbank in Zukunft Klimaziele verfolgt und bevorzugt sogenannte grüne Anleihen kauft?

Der Klimawandel ist wohl die größte Herausforderung, die sich für die Politik jetzt und in den nächsten Jahren stellt. Insofern liegt es nahe zu verlangen, dass auch die Notenbanken zur Minderung dieses Problems beitragen.

Was können Notenbanken in dieser Hinsicht leisten?

Wenn man genau hinschaut, bleibt nicht sehr viel übrig. Die Notenbank kann ihre eigenen Anlagen und die Ankäufe von Anleihen in Richtung grüne Papiere verstärken. Dabei entsteht jedoch die Frage, ob sie bei diesen Käufen die Risiken entsprechend berücksichtigen kann, die im Ankauf solcher Papiere liegen. Denn die Notenbanken dürfen nicht dazu beitragen, dass das Finanzsystem in Schwierigkeiten gerät, weil die Risiken nicht hinreichend im Preis berücksichtigt sind. Bei Lichte betrachtet ist also der Beitrag, den die Notenbanken bei dem Problem leisten können, bescheiden. Und was, wenn die Geldpolitik einmal in die andere Richtung geht und die Notenbank Anleihen verkauft? Wenn sie dann grüne Anleihen verkauft, kommt ein Aufschrei, dass die Klimaziele beeinträchtigt werden. Generell sollte man die Erwartungen an die Geldpolitik in dieser Hinsicht nicht zu hoch ansetzen, sonst kann es nur Enttäuschungen geben.

Wie stehen Sie zu digitalem Notenbankgeld, etwa dem digitalen Euro?

Diese Frage wird in den Notenbanken zurzeit intensiv und heiß diskutiert. Digitales Notenbankgeld bedeutet kurz gesagt, dass auch der einzelne Bürger oder ein Unternehmen ein Konto bei der Notenbank haben kann. Ein Konto, auf dem ein Guthaben liegt, bedeutet Zentralbankgeld, das dann eben digitaler Natur ist. Zu Schwierigkeiten kann es kommen, wenn etwa Unsicherheit über die Lage einer Geschäftsbank herrscht und die Gefahr eines Runs auf die Bank besteht, in der Form, dass die privaten Anleger in kürzester Zeit ihr Geld aus dieser Bank abziehen und statt dessen bei der Notenbank einlegen.

Wo liegt der Unterschied zu jedem anderen Banken-Run?

Die Möglichkeit, Bankguthaben in den sicheren Hafen des digitalen Notenbankgeldes zu transferieren, macht die Wahrscheinlichkeit eines Runs größer und auch, dass der Run auf eine Bank zum Flächenbrand wird. Das würde riesige Probleme für das Bankensystem erzeugen. Um dieses Risiko auszuschalten oder möglichst klein zu halten, werden Lösungen gesucht. Ein weiterer Aspekt wäre, dass digitales Zentralbankgeld an die Stelle von Bargeld tritt.

Welche Folgen hätte das?

Es gibt Bestrebungen, Bargeld aus vielerlei Gründen wie Steuerhinterziehung und dergleichen generell abzuschaffen. Aber die Abschaffung von Bargeld wäre ein tiefer Eingriff in das Geld- und Gesellschaftssystem. Mit Bargeld verfügt jeder Bürger über die Möglichkeit, anonym Geschäfte zu tätigen. Bei allen digitalen Systemen lassen sich die Zahlungsbewegungen nachvollziehen. Bei Bargeld nicht. Dostojewski hat einmal sehr richtig gesagt: Geld, und damit meinte er Bargeld, ist geprägte Freiheit. Die EZB hat immer betont, dass sie nicht daran denkt, das Bargeld aus dem Verkehr zu ziehen.

Ist die Einbeziehung von Wohneigentum in die Inflationsberechnung aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Zunächst besteht Inflationsmessung darin, dass etwa das Statistische Bundesamt viele Experten aussendet, die die Veränderungen von Preisen registrieren. Das ist ein absolut objektiver Vorgang. Dabei treten jedoch zwei große Probleme auf. Das eine ist: Wie berücksichtigt man Veränderungen der Qualität? Welchen Preis nimmt man auf, wenn ein Produkt zwar zum gleichen Preis, aber von deutlich besserer Qualität angeboten wird, weil die technische Entwicklung vorangeschritten ist? Das lässt sich nur näherungsweise berücksichtigen. Das andere Problem ist: Welche Preise nimmt man überhaupt auf? Hier gibt es aktuell eine Diskussion. Es geht darum, einen Preis für das Wohnen in der eigenen Immobilie anzusetzen, der de facto aber nicht entrichtet wird. Dieser fiktive Preis soll dann in den harmonisierten europäischen Preisindex einfließen.

Welche Auswirkungen hätte das im Vergleich zur aktuell gemessenen Inflation?

Das macht viel weniger aus als oft vermutet. Ich halte das der Sache nach für einen vernünftigen und richtigen Schritt, doch man sollte nicht erwarten, dass sich das Bild der Inflation dadurch wesentlich ändert. Es gibt Schätzungen, wonach die Erfassung etwa 0,2 Prozentpunkte ausmachen würde.

Wie sind Ihre Inflationserwartungen angesichts der hohen Staatsdefizite in vielen Ländern, die durch die Pandemie-Maßnahmen weiter steigen?

Wohlgemerkt, es geht um Erwartungen. Niemand hat eine Antwort, von der er sagen kann, sie sei absolut sicher. Meine deckt sich im Wesentlichen mit den Erwartungen des Sachverständigenrats und anderer Experten, dass die Pandemie kurzfristig, das heißt über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren, eher preisdämpfend wirkt. Die Frage ist, was kommt danach? Denn erst dann wirken sich die gewaltigen Staatsausgaben und, soweit die Notenbanken die zur Finanzierung ausgegebenen Staatspapiere kaufen, die damit verbundene Geldmengenausweitung auf die Preise aus. Es gibt durchaus Argumente, dass nach den etwa zwei Jahren die Inflation nach oben geht. Wie stark, kann kein Mensch auch nur mit annähernder Sicherheit sagen. Es hängt ja dann im Wesentlichen davon ab, wie die Notenbanken mit ihrer Geldpolitik auf einen solchen Preisanstieg reagieren.

Es gibt Bestrebungen, die Globalisierung zurückzudrehen. Wirkt das nicht preistreibend?

Die Globalisierung und die damit verbundene Ausweitung des Welthandels hat entscheidend zur steigenden Wohlfahrt in der Welt beigetragen. Schätzungsweise knapp eine Milliarde Menschen in Asien sind durch die Globalisierung aus bitterster Armut herausgekommen. Gleichzeitig hat dieser Prozess preisdämpfend gewirkt. Denken Sie allein an all die Produkte, die sehr günstig in Asien gefertigt wurden. Mit der Pandemie ist zu erwarten, dass die Globalisierung jedenfalls nicht im bisherigen Tempo weiter, vielleicht sogar zurückgeht. Lieferketten werden gekürzt, Produktion wird aus dem Ausland in Länder mit höherem Lohnniveau zurückgeholt und so weiter. Das hat zum einen den Effekt, dass sich unser Wohlstand reduziert oder dessen Ansteigen verlangsamt. Der Welthandel geht zurück und der damit verbundene positive Wohlstandseffekt wird kleiner. Es lässt damit auch der Druck auf die Preise nach. Mit anderen Worten entfällt zu einem erheblichen Teil ein bisher inflationsdämpfender Effekt.

Die Präsidentin der EZB, Frau Lagarde, möchte die Kommunikation der Notenbank verbessern. Wurde das bisher vernachlässigt?

Kommunikation hat in den vergangenen Jahren generell an Bedeutung zugenommen. In jedem Bereich, von der Politik bis hin zu einzelnen Unternehmen und erst recht für die EZB, die vor der riesigen Aufgabe steht, die Notenbank eines Gebildes von 19 Ländern mit mindestens ebenso vielen Sprachen zu sein. So gibt es an der Kommunikationsfront laufend Möglichkeiten der Verbesserung. Zudem ist die Materie der Geldpolitik sehr komplex. Man kommt nicht umhin, die unterschiedlichen Bereiche zu unterscheiden, die die EZB anspricht. Das sind zum einen die Finanzmärkte. Dazu dienen die sechswöchigen Pressekonferenzen, die aber nur ein vergleichsweise kleines Segment der Öffentlichkeit erreichen. Die EZB ist in ihrer breiteren Kommunikation auf die Medien angewiesen, die übersetzen, was die EZB sagt. Entscheidend ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilität ihrer Währung. Soweit die Kommunikation dazu beitragen kann, ist sie wichtig. Aber am Ende entscheidet das Ergebnis: stabile Preise.

Frau Lagarde ist ein Jahr an der Spitze der EZB. Wie beurteilen Sie dieses Jahr?

Frau Lagarde ist, wenn man so will, in einen fahrenden Zug eingestiegen. Richtung und Geschwindigkeit wurde in entscheidenden Punkten wesentlich durch den vorherigen Präsidenten Mario Draghi bestimmt. Ob Frau Lagarde nun einen anderen Kurs im Kopf hatte oder nicht, mit der Pandemie wurde das alles hinfällig. Die Entscheidungen der EZB waren in dieser Situation mehr oder weniger determiniert. Für das erste Jahr hatte Frau Lagarde keinen großen Spielraum für ihre Entscheidungen. Zumal auch immer zu berücksichtigen ist, dass nicht allein der Präsident entscheidet, sondern es entscheidet der EZB-Rat, der aus 19 nationalen Notenbankpräsidenten und sechs Mitgliedern des Direktoriums besteht.

Das klingt, als habe sich mit Christine Lagarde in der EZB nichts geändert.

Nein. Was Frau Lagarde sicher geändert hat: Mario Draghi hat eine zunehmend dominierende Rolle in der EZB gespielt, nach innen wie nach außen. Nach meinem Dafürhalten, hat er diese Rolle am Schluss überzogen. Mit Frau Lagarde ist ein anderer Führungsstil eingekehrt, der mehr auf Kooperation und ein gemeinsames Verständnis setzt. Dieser neue Stil bekommt der EZB ausgesprochen gut.

Eine eher persönliche Frage zum Ende: Wie halten Sie es mit der Altersvorsorge: Aktien, Anleihen, Immobilien?

(Lacht) Ich bin in der beneidenswerten Situation, dass ich eine anständige Pension bekomme, sodass ich mir die Sorgen, die viele umtreiben, nicht machen muss. Das ist ein Privileg. Wobei das ein Privileg von vielen im Öffentlichen Dienst ist. Und ich finde es ärgerlich, wenn sich die Leute dessen nicht bewusst sind. Denn je größer die Unsicherheit in weiten Teilen der Bevölkerung, desto größer wird dieses Privileg. Was mich auch bedrückt, ist die Situation der jungen Generation, die es extrem schwer hat, bei null Zinsen für sichere Anlagen Vermögen aufzubauen. Zudem werden die jungen Menschen mit einer riesigen Last konfrontiert, die ihnen vor allem die jetzt noch existierende Große Koalition mit den Veränderungen im Rentensystem auf die Schultern geladen hat. Das ist eine Privilegierung der Älteren zulasten der jüngeren Generation. Darüber hinaus kommen im Umlageverfahren auf die Jüngeren auch Lasten aus einer schrumpfenden Bevölkerung zu, und das Gesundheitssystem wird immer teurer. Die jüngere Generation wird in einem Ausmaß belastet, das vielen nicht hinreichend deutlich ist. Das macht die Altersvorsorge wichtiger und die Schwierigkeit, sie zu leisten, noch größer.
 


Vita:

Chef-Volkswirt

Otmar Issing (84) wurde 1936 in Würzburg geboren. Nachdem er zunächst das Studium der klassischen Philologie an der Universität Würzburg aufnahm, wechselte er schon bald zur Volkswirtschaftslehre. Neben etlichen weiteren Funktionen war er von 1998 an acht Jahre Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, zuständig für Volkswirtschaft und Volkswirtschaftliche Forschung. Heute ist Issing Präsident des Center for Financial Studies in Frankfurt.
 


Interesse:

Geldpolitik von Anfang an

Schon zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere waren es Fragen der Geldpolitik, die Issing faszinierten. Seine Dissertation beschäftigte sich mit monetären Problemen der Konjunkturpolitik in der EWG. Mitte der 60er-Jahre habilitierte er sich mit der Schrift "Leitwährung und internationale Wirtschaftsordnung" und erhielt die Venia Legendi für Volkswirtschaftslehre.