Peter Oppenheimer bevorzugt ein zurückhaltendes Auftreten. Aufsehenerregend sind dagegen die Thesen, die er vertritt. Der Brite ist Chef der globalen Aktienanlage-Strategie bei der weltweit einflussreichen USamerikanischen Investmentbank Goldman Sachs. Für das abgelaufene Jahr hatte der Ökonom die "große Rotation" erwartet, den massiven Abzug von Mitteln institutioneller Investoren aus Anleihefonds, um das Geld in Aktien und Aktienfonds anzulegen.

Der Chefstratege von Goldman Sachs lag damit richtig. Abflüsse im großen Stil aus US-Anleihen machten 2013 nach Einschätzung der USBank zum schwächsten Jahr in der Geschichte von US-Bonds.

Oppenheimers Thema für 2014 ist das wirtschaftliche Comeback der Industrieländer. Ihr Aufwind werde die europäischen Konzerne aus einer drei Jahre dauernden Stagnation beim Gewinn- und Dividendenwachstum befreien, sagte Oppenheimer im Gespräch mit BÖRSE ONLINE. Er erwartet eine moderate, dafür aber lange, bis 2017 anhaltende Erholung europäischer Aktien.

Herr Oppenheimer, Sie hatten für 2013 die große Umschichtung im Finanzmarkt vorausgesagt. Tatsächlich wurden 74 Milliarden Dollar aus US-Anleihen abgezogen und 347 Milliarden Dollar in Aktien investiert. Setzt sich dieser Trend fort?

Ja. Wir gehen davon aus, dass Aktienrenditen die von Anleihen auch in diesem Jahr übertreffen werden, allerdings in einem geringeren Umfang.

Gilt das auch für Europa?

Aufgrund ihrer Kundenverpflichtungen haben Versicherer und Pensionskassen weitaus weniger Flexibilität, was die Umschichtung in riskantere Anlageklassen angeht.

Das Wachstum der US-Wirtschaft zieht überraschend stark an, Europa hat die Rezession überwunden. Können die Industrieländer die Schwellenländer als Wachstumslokomotive ablösen?

Nein. Die Industrienationen haben aber mehr Spielraum für Wachstum, da sich die konjunkturelle Situation verbessert. Wenn es um die Steigerung von Aktienpreisen geht, sind es nicht die absoluten Wachstumsraten, die zählen. Diese werden nach wie vor in den Schwellenländern deutlich höher bleiben. Wichtig sind die Veränderungen an sich. Industrienationen mit einem starken Gewicht in der globalen Wirtschaftsleistung, wie zum Beispiel die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Japan, werden voraussichtlich 2014 über Trend wachsen. Auch Deutschland wird die globale Konjunktur mit zwei Prozent Wachstum antreiben. Die Wirtschaftsleistung der großen BRIC-Staaten wird im Schnitt knapp sechs Prozent zulegen, also nicht stärker als im Vorjahr.

Ist die Story vom wirtschaftlichen Aufstieg der großen Vier - Brasilien, Russland, Indien und China - die Goldman Sachs unter dem Kürzel BRIC zusammenfasst, als Kurstreiber an den Börsen zu Ende?

Nein, wir gehen davon aus, dass die Kapitalmärkte in den Industrieländern auch 2014 stärker zulegen werden. In den Schwellenländern wird es aber im Vergleich zum Vorjahr, als alle Börsen dort gleich schwach waren, deutliche Unterschiede geben. Einige Schwellenländer, die große Haushaltsdefizite haben, sind zu einem erheblichen Teil auf eine kurzfristige Refinanzierung ihrer Haushalte über den Kapitalmarkt angewiesen. Diesen könnte der Anstieg der Zinsen und der stärkere Dollar zu schaffen machen. Andere wie China, Südkorea und Taiwan haben hohe Währungsreserven und werden gegen diese Widerstände besser gewappnet sein.

Wird westliches Kapital, wie schon 2013, im großen Stil abgezogen?

Das erwarten wir nicht. Aber die verbesserten Wachstumsaussichten vieler Industrienationen sollten sich positiv auf die Zuflüsse an westliche Börsen auswirken.

Ist das mit ein Grund dafür, dass Goldman Sachs bei Aktien aus rohstoffintensiven Branchen und Industrien, die vom Ausbau der Infrastruktur in Schwellenländern profitieren, nur geringes Kurspotenzial erwartet?

Ja. Beim wirtschaftlichen Zyklus ist das Potenzial für erholungsbedingtes Wachstum gering. Während der vergangenen Jahre wurde in den Schwellenländern sehr viel Geld in die Förderung von Rohstoffen und in den Ausbau von Industrie und Infrastruktur investiert. Dieser Zyklus hat jetzt wahrscheinlich einen Höhepunkt erreicht, weshalb wir niedrigere Erträge in diesen Märkten sehen. In einigen Rohstoffmärkten gibt es inzwischen sogar erhebliche Überkapazitäten.

Mit der abgeschwächten Wachstumsfantasie der Schwellenländer dürfte auch die Kursfantasie im DAX verpuffen.

Nein. Die Präsenz der DAX-Konzerne in Schwellenländern wird zwar nicht mehr wie bisher ein so starker Kurstreiber sein. Die exportstarken deutschen Unternehmen machen aber einen erheblichen Teil ihres Geschäfts in Ländern wie Amerika, Großbritannien und Japan, wo das Wachstum stark anzieht. Der DAX bleibt deshalb Favorit.

Obwohl 2013 auch an den europäischen Börsen ein gutes Jahr war, gab es keine breite Steigerung bei den Dividenden. Warum?

Eine wesentliche Ursache ist die inzwischen überwundene Rezession in der Eurozone und erheblich weniger Dividenden von Banken, Versorgern und Telekomkonzernen. Diese Unternehmen schütten aus historischer Sicht die höchsten Dividendensummen aus. Ein Vergleich mit Amerika, wo Aktienrückkäufe gegenüber Dividenden traditionell bevorzugt werden, macht aus Sicht der Aktionäre den Nachholbedarf bei der Ausschüttung von Dividenden europäischer Konzerne besonders deutlich. Die Summe der Dividenden im S & P 500 Index ist während der vergangenen drei Jahre um 50 Prozent auf 800 Milliarden Dollar gestiegen. Und das, obwohl Aktienrückkäufe für Unternehmen im gegenwärtigen Umfeld selbst über Kredite günstiger sind als höhere Dividenden. In Europa blieb die Dividendensumme in drei Jahren dagegen unverändert. Dieser große Unterschied ist sehr ungewöhnlich.

Werden die europäischen Banken also traditionell starke Dividendenzahler jetzt wieder deutlich mehr ausschütten?

Ja, und zwar in dem Maße und über die Zeit, in welcher sich die Kapitalausstattung verbessert. Dies ist einer der Gründe, warum wir unsere Prognose für europäische Banken angehoben haben. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass die Banken in der Vorbereitung auf die Stresstests im Vorlauf zur Europäischen Bankenunion mit hohen Dividendensteigerungen aufwarten werden.

Auch europäische Konzerne haben rekordverdächtige Cashreserven. Nicht nur Banken dürften also ihre Dividenden erhöhen. Wo sind die Aussichten gut?

Die geeignetsten Kandidaten sind Konzerne mit starken freien Cashflows, niedrigen Ausschüttungsquoten und geringer Verschuldung.

Die Verschuldung der Konsumenten in den Peripherieländern der Eurozone bleibt weiter hoch. Wie stark bremst das den Aufschwung?

Viel stärker als die hohe Verschuldung bremst die hohe Arbeitslosigkeit den erwarteten Aufschwung. Weniger Arbeitslose wären ein starker Wachstumstreiber.

Dennoch erwarten Sie, dass die Gewinne der europäischen Konzerne bis 2017 jährlich deutlich steigen. Wie passt das zusammen?

Zu den Faktoren für höhere Gewinne der Konzerne gehört auch das Umsatzwachstum in den reifen Märkten außerhalb der Eurozone. Während der dreijährigen Eurorezession haben die Unternehmen ihre Arbeitskosten durch eine rigide Kostenkontrolle deutlich reduziert. Höheres globales Wachstum sollte dabei helfen, sowohl die Umsätze als auch die Margen von einem niedrigen Niveau zu steigern.

Viele globale volkswirtschaftliche Risiken wurden entschärft. Gibt es jetzt zu wenig Angst und zu viel Gier an den Kapitalmärkten?

Gier würde ich das nicht nennen. Denn die Bewertung der Aktien ist auch weiterhin nicht extrem hoch. Viel Optimismus trifft es besser. Derzeit erwarten wir für die Unternehmen im Stoxx-Europe-600-Index für das laufende Jahr im Durchschnitt 14 Prozent mehr Gewinn. Das schwache Wirtschaftswachstum im Euroraum setzt dafür enge Grenzen.

Weitblick

London, das Kraftzentrum der Kapitalmärkte in Europa, kennt Peter Oppenheimer ganz genau. Vor seinem Einstieg bei Goldman Sachs, wo er aktuell die globale Aktienstrategie verantwortet, war der Volkswirt und Top-Absolvent der London School of Economics (1985) bis 2002 Chef-Investmentstratege der britischen Bank HSBC.