2019 litten die Börsen weltweit unter politischen wie auch wirtschaftlichen Unsicherheiten wie etwa dem Brexit oder dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten stehen 2020 besonders im Fokus?
Welche Börsen haben 2019 denn gelitten? Bisher war es weltweit ein ausgezeichnetes Aktienjahr. Und wir glauben, dass 2020 ein ordentliches Börsenjahr folgen wird. Dennoch gilt es, die Augen für sinnvoll prognostizierbare Risiken offenzuhalten. Ein solches Risiko könnten die US-Präsidentschaftswahlen werden. Bei Anleihen wird es der Markt alleine hingegen kaum richten. Angesichts der anhaltenden Tiefzinspolitik lassen sich Erträge bei klassischen Papieren praktisch nur noch durch Alpha erzielen, also durch das Abweichen vom Markt. Immerhin dürfte eine mögliche Zinswende 2020 kein großes Risiko sein.

Ist eine Entspannung bei den aktuellen Dauerbrennern Brexit und Handelsstreit in Sicht?
Nach den jüngsten Wahlergebnissen scheint Boris Johnson gute Chancen zu haben, den formellen Austritt Großbritanniens aus der EU abzuschließen. Doch der Brexit ist für langfristig orientierte Investoren "noise". Das bedeutet, es hat für globale Anlageentscheidungen wenig Relevanz. So ist Chinas Wirtschaft seit dem Referendum im Sommer 2016 in der Größenordnung gewachsen, die dem gesamten Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens entspricht. Das verdeutlicht, wer relevant für die Weltwirtschaft ist und wer nicht. Der von den USA ausgehende Handelskonflikt mit China ist vor allem im Kampf der derzeit führenden Weltmacht USA und der künftig führenden Weltmacht China begründet. Trump möchte den Wachwechsel so lange wie möglich hinauszögern. Was nichts anderes bedeutet, als dass der Konflikt zwischen den USA und China auch mit einem "Deal", der sich derzeit abzuzeichnen scheint, nicht vorbei ist. Es dürfte dann lediglich eine Waffenpause sein.

Aus heutiger Sicht: Welche Themen dürften die Börsen 2020 sonst noch beschäftigen?
Mit Blick auf unser anlagestrategisches Weltbild halten wir folgende Themen für relevant, die aber über 2020 hinaus wirken.
• Wir erwarten mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Notenbanken alles tun werden, um eine Finanzkrise zu vermeiden.
• Wir gehen davon aus, dass die Tiefzinsphase noch sehr lange anhält.
• Wir glauben, dass das Vertrauen in unser Geld abnimmt, zumindest was seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel betrifft.
• Wir glauben, dass die Inflation steigen dürfte. Sie wird wohl nicht fünf oder sechs Prozent erreichen, aber auf längere Sicht über dem langfristigen Durchschnittssatz in Mario Draghis Amtszeit liegen, also höher als 1,1 Prozent jährlich ausfallen.

Das schwächelnde Wachstum der chinesischen Wirtschaft bremst die Weltwirtschaft und hemmt damit auch die Aussichten für Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser Entwicklung im nächsten Jahr sein?
Deutschland ist für global ausgerichtete Anleger relativ unbedeutend, auch wenn das für manche brutal klingen mag. Viel wichtiger ist China, wobei es für Investoren vor allem gilt, das langfristige Wachstumspotenzial abzuschätzen. Das reale Wachstum wird zwar etwas schwächer. Doch in absoluten Zahlen gerechnet würde der Wachstumsbeitrag Chinas den zusammengerechneten Beitrag der USA und der Eurozone in den nächsten fünf Jahren immer noch übersteigen - selbst bei einer sehr konservativen Kalkulation. Dabei sind auch die nominalen Wachstumsaussichten für die USA und die Eurozone positiv. Unterm Strich ist also bei einem global ausgerichteten Depot auf Sicht von fünf Jahren kein Gewinneinbruch der Unternehmen zu erwarten.

Mit Christine Lagarde steht die Europäische Zentralbank (EZB) seit November 2019 unter neuer Führung. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat im EZB-Rat einigen Gesprächsbedarf zurückgelassen. So sind die Ratsmitglieder im Hinblick auf die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms und dem Leitzins auf Rekordtief gespaltener Meinung. Einige fordern einen Kurswechsel der EZB. Wo sehen Sie die EZB Ende 2020?
In einem Memorandum äußerten frühere Notenbanker aus Deutschland, Frankreich, Österreich und den Niederlanden ihre Sorge über den anhaltenden Krisenmodus und Kontrollverlust über die Inflation. Die Anleihekäufe würden kaum noch Wirkung zeigen. Das symmetrische Inflationsziel könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilität des Euro untergraben. Die künstlich tiefen Zinsen würden Vermögenspreisblasen entstehen lassen. Wir haben diese Punkte in den vergangenen Jahren immer wieder adressiert. Dabei sind wir zu dem Schluss gekommen, dass niemand die EZB davon abhalten können wird, ihre ultralockere Geldpolitik fortzusetzen. Zudem sollte niemand die Kreativität der Notenbanken bezüglich neuer Instrumente unterschätzen.

Wird die EZB an ihrem geldpolitischen Lockerungskurs 2020 festhalten?
Christine Lagarde steht mitnichten dafür, dass sich an der ultralockeren Geldpolitik etwas ändert. Wir haben erstmals in unserem Kapitalmarktbericht vom ersten Quartal 2016 gesagt, dass die europäische Notenbank den "Point of No Return" bereits überschritten hat, eine echte Zinswende nach oben also gar nicht mehr möglich ist. Die Zinsen werden noch über Jahre hinaus auf ihren aktuellen historischen Tiefstständen bleiben. Die hoch verschuldeten Staaten benötigen tiefe Zinsen, um ihre Schulden finanzieren zu können.

Das Jahr 2019 stand ganz im Zeichen von Niedrigzins. Mittlerweile sind nicht mehr ausschließlich Banken von Strafzinsen betroffen, sondern auch Privatanleger müssen teils ab dem ersten Cent zahlen. Auch von Krediten mit Negativzinsen ist inzwischen die Rede. Rechnen Sie mit flächendeckender Verbreitung von Negativzinsen für Privatkunden?
Die Hoffnung auf eine Zinswende nach oben ist tot. Insofern müssten sich eigentlich alle Banken gezwungen sehen, die Negativzinsen an alle Kunden weiterzureichen. Inwieweit das flächendeckend passieren wird, ist eine Frage, die auch in den Marketing- und nicht nur in den Finanzabteilungen der Banken entschieden wird.

Die USA befinden sich im längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Doch es gibt auch Hemmschuhe, weiß Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Politische Unsicherheiten und Diskussionen über die Regulierung amerikanischer Großindustrien wie beispielsweise Finanzen, Pharma, Energie und Tech im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2020 könnten das Wachstum hemmen. Wie schätzen Sie das Wachstum der USA für das nächste Jahr ein?
Der längste Konjunkturaufschwung der Nachkriegszeit in den USA brachte mit durchschnittlich 2,3 Prozent Plus per annum aber auch die geringsten jährlichen Wachstumsraten aller Aufschwünge. Es würde uns nicht überraschen, wenn dieses "Durchwursteln" noch ein paar Jahre weitergehen würde. Die US-Volkswirtschaft hat aktuell zudem einen relativen Wettbewerbsvorteil: Die Wertschöpfung hängt nur zu 20 Prozent vom internationalen Warenhandel ab. Handelskonflikte wirken sich damit weniger aus als beispielsweise in Deutschland.

Im November des nächsten Jahres wird in den USA wieder gewählt. Inwieweit werden sich der Wahlkampf und die Wahl voraussichtlich auf die Börsen auswirken?
Solange Demokraten wie Joe Biden oder Michael Bloomberg gegen den Republikaner Donald Trump antreten, passiert an den Märkten voraussichtlich wenig. Doch das politische Programm der Demokratin Elizabeth Warren ist eine Herausforderung für die Märkte: So will sie Unternehmen zusätzlich besteuern, die mehr als 100 Millionen US-Dollar Gewinn erzielen, und zwar mit sieben Prozent Steuern on top. Für Amazon würde beispielsweise dadurch eine zusätzliche Steuerlast von etwa 700 Millionen US-Dollar entstehen. Dieses Vorhaben wirkt negativ auf die Gewinnaussichten der US-Firmen, und die Börse würde diese Effekte wahrscheinlich antizipieren.

Im speziellen Donald Trump: Schon in der Vergangenheit wurde der Einfluss des US-Präsidenten auf die Börsen deutlich. Für eine Wiederwahl dürfte der Präsident alle Register ziehen. Wie könnte sich das auf die Börsen auswirken?
Donald Trump hat den Erfolg seiner Politik untrennbar mit der Entwicklung der Wirtschaft und der Börse verknüpft. Ein Konjunktureinbruch und ein schwacher Aktienmarkt, die die Bilanz seiner ersten Amtsperiode zerstören, würden die Chancen auf seine heiß ersehnte Wiederwahl reduzieren. Im Wahljahr wird er vermutlich alles tun, damit es für Wirtschaft und Börse gut läuft.
Für den Fall jedoch, dass sich Elizabeth Warren bei den Demokraten durchsetzen sollte, könnte Trump von dieser Strategie abweichen. Ein Absacken der Wall Street würde ihm Argumente für den Wahlkampf liefern nach dem Motto: Schaut Euch gut an, was an den Märkten passiert, wenn Elizabeth Warren zur Wahl antritt. Wie wird es erst mit ihr als Präsidentin sein?!

Strategen blicken dem neuen Börsenjahr teils nicht sehr optimistisch entgegen. In welchen Branchen sehen Sie die größten Chancen und warum?
Wir gehören nicht dazu. Unserer Meinung nach hat sich an den positiven Faktoren an den Aktienmärkten wenig geändert. Wir machen auch keine Branchen-Allokation, sondern schauen auf das einzelne Unternehmen: Erzielt es verlässlich Gewinne und wächst es robust, ist es sinnvoll verschuldet und global aufgestellt, und wie gut ist das Management? Gute und schlechte Unternehmen finden sich in allen Bereichen, Ländern und Regionen.

Könnte die deutsche Wirtschaft 2020 in eine Rezession abgleiten?
Das Flossbach von Storch Research Institute hat einen neuen Konjunkturindikator entwickelt, der zu dem wenig überraschendem Ergebnis kommt, dass sich Deutschland bereits seit April in einer Rezession befindet. Aber nur weil wir Deutschen ein Problem haben, sollten wir nicht den Fehler machen, es zu einem globalen Problem zu machen. Das globale Wachstum ist zwar moderat, entwickelt sich aber stetig.

Was ist Ihre Einschätzung? Stehen die Börsen im nächsten Jahr vor einem Boom oder vor einem Crash?
Wir glauben, die Zeichen stehen gut, dass auf ein (bisher) ausgezeichnetes Aktienjahr 2019 ein ordentliches Börsenjahr 2020 folgen kann, auch wenn im zweiten Quartal ein Schluckauf angesichts der US-Präsidentschaftswahlen möglich ist. Ein nachhaltiger Crash erscheint uns wenig wahrscheinlich. Ein "schwarzer Schwan" à la Fukushima ist natürlich nie auszuschließen. Zudem klemmt es im Finanzsystem. Hier machen Crash-Diskussionen prinzipiell Sinn. Doch die Notenbanken stehen notfalls bereit, um einzugreifen. Zudem würden auch in einem solchen Szenario Realwerte wie Aktien, Immobilien oder Gold einen besseren Schutz darstellen als Nominalwerte.

Wo steht der DAX zum Jahresende?
Welchem Jahresende? 2025? - Jeder Versuch, Marktentwicklungen kurzfristig prognostizieren zu wollen, muss scheitern. Mehr als Glückstreffer sind bei solchen Vorhersagen nicht drin. Sie sind daher wenig hilfreich für Anlageentscheidungen. Wo der Dax allerdings Ende 2025 stehen wird, ist viel leichter vorherzusagen. Unserer Meinung nach deutlich höher.

Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2020 setzen?
Wie schon in den vergangenen zehn Jahren setze ich auf Aktien. Hier finden Sie noch reichlich Beta, während sie in allen anderen liquiden Anlageklassen hart kämpfen müssen, um positive Renditen via Alpha zu erzielen, da kaum noch Beta vorhanden ist. Anleger können dort also nur noch Gewinne erzielen, indem sie extrem aktiv und flexibel vom Markt abweichen.