Die Freude über die Wahl von Boris Johnson zum Premierminister Großbritanniens hält sich am Finanzplatz London in Grenzen. Zwar war und ist das Hauptanliegen seiner Kandidatur, den Brexit bis Ende Oktober endlich unter Dach und Fach zu bringen - mit oder ohne Übereinkunft -, dennoch sind die Sorgen über das "Wie" groß. Dass deswegen die ohnehin starke Unsicherheit in den kommenden Wochen noch zunehmen wird, ist möglich. Der IWF beispielsweise hat gerade die Brexit-Hängepartie sowie die massiven Handelskonflikte als die Haupt­risiken der Weltwirtschaft bezeichnet.

Klar ist, dass sich mit der Ernennung des neuen Premiers die Wahrscheinlichkeit für einen "No Deal", also einen Abschied aus der EU ohne abfederndes Vertragswerk, drastisch erhöht hat - unter Berücksichtigung aller möglichen Szenarien liegt sie deutlich über 50 Prozent. Das eine oder andere Forschungsinstitut geht jedenfalls davon aus, dass ein solcher harter Brexit im Gegensatz zu einem weichen EU-Austritt dem langfristigen Wirtschaftswachstum des Landes deutlich mehr Schaden zufügt. Von bis zu acht Prozentpunkten bis 2030 ist die Rede.

Den Konkurrenten hinterher


Diese Unsicherheit ist natürlich Gift für Aktien aus dem Vereinigten Königreich: Der Leitindex FTSE 100 hinkt auch dieses Jahr den anderen europäischen Börsen deutlich hinterher. Von den größeren Handelsplätzen schneidet lediglich Madrid schlechter ab. Bei Fondsmanagern zählt der Börsenplatz London ohnehin schon seit etlichen Quartalen zu den unbeliebtesten weltweit. Das zeigt auch der langfristige Performance-Vergleich: So ist der breit gefasste FTSE 250 auch schon seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 zurückgeblieben. Nicht ganz so schlimm ist es beim FTSE 100 - was vermutlich daran liegt, dass die 100 größten Unternehmen der London Stock Exchange LSE rund 75 Prozent ihres Umsatzes außerhalb Großbritanniens erzielen.

Etliche Aktien dieser multinationalen Unternehmen stehen in Sachen Wertentwicklung dann auch gar nicht so schlecht da: AstraZeneca, Diageo, Prudential, Rio Tinto, Unilever - fünf Bluechips mit Listing an der LSE - weisen alle eine Wert­steigerung von rund 20 Prozent im laufenden Jahr auf. Wer selektiv vorgeht, kann also doch auch gute Gewinne mit UK-Aktien einfahren.

Vielleicht ist das relative Desinteresse vieler professioneller Investoren auch eine Chance. Richard Colwell beispielsweise, der bei der Fondsgesellschaft Columbia Threadneedle für britische Aktien zuständig ist, betont, dass Werte der Börse London im Vergleich zu anderen wichtigen Aktienindizes so günstig seien wie seit 30 Jahren nicht mehr.

Ordentliche Dividenden


Dazu passt auch, dass sich die durchschnittliche Dividendenrendite in den zurückliegenden Jahren zwischen vier und fünf Prozent bewegte. Der britische Aktienmarkt sei "zum Land der vielen Möglichkeiten" geworden, findet daher auch die US-Bank Citigroup in einer Analyse.

Spannend in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung des britischen Pfund. Die deutliche Abwertung der vergangenen Wochen zeigt an, dass die Angst vor einem harten Brexit wieder gestiegen ist. Gleichzeitig macht die schwächere Landeswährung Euroanlegern zu schaffen, die in britische Aktien investieren, gehen doch Teile der Gewinne bei der Umrechnung in die Heimatwährung verloren.

Allerdings hat das schwache Pfund auch etwas Positives: Es stützt die Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen. "Da der Großteil der unternehmerischen Erträge in Großbritannien aus Übersee stammt, würde dies die meisten FTSE-100-Unternehmen stützen", kommentiert Steven Bell, Chef-Volkswirt bei BMO Global Asset Management. "Im Inland ansässige Unternehmen würden allerdings unter dem schwachen Kurs leiden."

Bell geht davon aus, dass ein "No Deal" im Preis des britischen Pfund bereits "eingepreist" sei. Bei einem unmittelbaren Ausstieg aus der EU bestünde aber noch immer das Risiko eines zwischenzeitlichen Kurseinbruchs von zehn bis 15 Prozent. Als spekulativer Anleger könnte man also durchaus davon ausgehen, dass jetzt erst einmal Ruhe beim Pfund Sterling einkehrt. Und dies ist durchaus ein Aspekt, der dafür spricht, sich gerade als Euroanleger wieder etwas mehr mit britischen Aktien zu beschäftigen. Eines jener Unternehmen, das sich relativ unbeeindruckt vom Brexit entwickelt, ist beispielsweise der weltgrößte Schnapsbrenner Diageo. Der Hersteller von Marken wie Baileys, Smirnoff, Tanqueray oder dem irischen Bier Guinness hat im abgelaufenen Geschäftsjahr vor allem von guten Geschäften in Asien profitiert. Aber auch in den meisten anderen Regionen konnten die Briten zulegen. Lediglich in Europa und der Türkei stagnierte das Geschäft. Konzernweit legte der Umsatz um sechs Prozent zu. Außerdem kündigte Diageo einen weiteren Aktienrückkauf in Milliardenhöhe an.

Der Kursverlauf der Aktie ist beeindruckend, in den zurückliegenden Jahren ist es unglaublich stetig nach oben gegangen. Durch die aktuellen - eher makroökonomisch bedingten - Turbulenzen an den Märkten, könnten sich jetzt gute Gelegenheiten bieten, bei Diageo zu einem etwas niedrigeren Kursniveau einzusteigen.

Relativ konjunkturunabhängig


Interessant ist auch Reckitt Benckiser. Der Konsumgüterkonzern steht für Marken wie Sagrotan, Vanish oder Calgon und zählt zu den weltweit größten Unternehmen der Branche. Da es bei Reckitt überwiegend um Produkte des täglichen Bedarfs geht, ist das Unternehmen recht konjunkturunabhängig. Im laufenden Jahr rechnen Analysten allerdings mit einer Umsatzdelle, 2020 soll es mit sechs Prozent Umsatzplus aber wieder ordentlich vorangehen.

Immer wichtiger werden frei verkäufliche Arzneimittel sowie Produkte wie Nahrungsergänzungsmittel, die in das Sortiment vieler Apotheken, Drogerien und Supermärkte passen. Spannend ist auch, dass Reckitt in den vergangenen 15 Jahren die Dividende regelmäßig steigern konnte - das schaffen nur die wenigsten Unternehmen der Welt. Nach den jüngsten Verlusten stufen wir die Aktie dank dem deutlich günstigeren Kursniveau mit neuem Ziel und neuem Stopp von "Beobachten" auf "Kaufen" hoch.

Eher eine spekulative Wette ist HSBC. Mit einem Börsenwert von umgerechnet 133 Milliarden Euro ist die "Hongkong & Shanghai Banking Corporation" die mit Abstand wertvollste Bank Europas und spielt als einziges europäisches Haus in der ersten Liga mit, der sonst nur amerikanische Branchenriesen wie beispielsweise JP Morgan Chase, Bank of America, Wells Fargo und Citigroup angehören.

Der Aktienkurs ging zuletzt ordentlich nach unten, auch weil Konzernchef John Flint in der Nacht zum Montag nach nur rund eineinhalb Jahren von der Spitze der größten europäischen Bank zurück­trat. Flint hatte versucht, den Konzern auf Wachstum auszurichten. Es war geplant, bis 2020 bis zu 17 Milliarden Dollar vor allem in Asien zu investieren, um das Geschäft zu stärken.

Die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin habe begonnen, könne jedoch bis zu einem Jahr dauern. So oder so will die britische Großbank aber rund zwei Prozent der Jobs streichen - das wären etwa 4000 Arbeitsplätze. Zudem ist ein weiterer Aktienrückkauf geplant. So will die HSBC eigene Aktien im Wert von bis zu einer Milliarde US-Dollar - das sind rund 900 Millionen Euro - vom Markt zurückkaufen.

Auf einen Blick: Großbritannien