BOERSE-ONLINE.de: Mehrere Tage lang war es nicht eindeutig, wer das Rennen machen würde. Nun holte doch der Demokrat Joe Biden die Mehrheit der Wahlleute. Sind Sie erleichtert?
Robert Halver: Ja, ich bin erleichtert, weil sich die weltpolitische Lage entspannt. It’s Joe-Time: Es gibt wieder eine regelbasierte und vertrauenswürdige US-Außen- und Handelspolitik. Man spricht wieder miteinander. Und solange man miteinander redet, wird nicht geschossen. Sicher wird die neue Biden-Regierung für Europa kein reines Zuckerschlecken werden. Hinter den Kulissen wird hart gerungen. Aber man wird Kompromisse finden. Auch wenn es keine heiße transatlantische Liebe mehr geben wird, gibt es zumindest eine platonische Vernunftehe. Es fliegt kein Porzellan.

Präsident Donald Trump hat mehrfach angekündigt, juristische Schritte einzuleiten, sollte er die Wahl nicht für sich entscheiden können. Kann das Erfolg haben? Was bedeuten die möglichen Spannungen für die Börsen?
Das ist zwar ein Schmutzfleck für die amerikanische Demokratie. Und der Übergangsprozess vom alten auf den neuen Präsidenten wird nur mit Reibungsverlusten gelingen. Aber letzten Endes wird Trump mit seinen Scharmützeln keine Chance haben. Und zum Glück sind die amerikanischen Straßen relativ ruhig. Hoffentlich bleibt das auch so. Die Börsen betrachten Trumps Abwehrschlacht eher als letztes Aufbäumen eines "zukünftigen Ex-Präsidenten", der an der Legende arbeitet, dass er nur wegen Wahlbetrugs verloren hat. Aber das wird man abhaken. Die Börse schaut jetzt nach vorne. Trump sollte sich seine Niederlage mit Anstand eingestehen. Er ist schließlich kein Kleinkind mehr, dem man sein Spielzeug weggenommen hat.

Welche Veränderungen erwarten Sie aus handelspolitischer Sicht? Gerade im Hinblick auf Europa und den Handelsstreit zwischen den USA und China?
Die Biden-Regierung wird versuchen, mit China eine friedliche Koexistenz einzugehen, allerdings nur, wenn Peking seine unfairen Handelspraktiken deutlich zurückfährt. Das Feindbild China bleibt jedoch auch bei den Demokraten erhalten. Für die amerikanische Seele ist ein Feindbild immer wichtig, nachdem die Russen an Bedeutung verloren haben. In der Auseinandersetzung mit China wird Biden Europa einbinden. Er weiß, dass der transatlantische Schulterschluss hier mehr Effekt erzielt. Für Europa ist das sicherlich eine Aufwertung seiner geopolitischen Situation. Aber machen wir uns nichts vor. Auch Biden ist das amerikanische Hemd viel näher als der europäische Rock. Der Wirtschaftswiederaufbau der USA mit möglichst vielen Jobs hat für Biden oberste Priorität. Nichts versöhnt ein gespaltenes Land mehr wie ökonomische Perspektiven. Es geht also um "Buy American" und Produktion im In-, nicht im Ausland. Die europäische Exportmaschine wird Biden sicher zwar nicht zum Stillstand bringen, aber ölen müssen wir sie selbst. Hoffentlich haben wir in der EU gelernt, uns zu emanzipieren. Amerika nimmt uns nicht mehr die geo-, wirtschafts- und handelspolitische Drecksarbeit ab. Wir müssen selbst sehen, wie wir erfolgreich sind. Wir müssen aus der Pubertät raus und erwachsen werden.

Welche Chancen und Risiken erwarten Sie für die Börsen unter dem Präsidenten Joe Biden?
Die politischen Rahmenbedingungen, die für Börsen immer wichtig sind, werden deutlich an Berechenbarkeit gewinnen. Es gibt wieder ein Leitplankensystem, an dem man sich orientieren kann. Das spricht für mindestens stabile Aktienkurse hüben wie drüben. Allerdings traue ich auch zukünftig den US-Aktien mehr als den europäischen zu. Das gilt insbesondere, wenn Amerika uns das Thema Klima- und Umweltschutz stiehlt. Denn Amerika denkt im Vergleich zu Europa nicht von morgens bis abends nur ideologisch und hypermoralisch. Amerika will mit diesem neuen Megathema auch Geld verdienen. Im Übrigen wird auch Biden den High Tech-Sektor nicht zerschlagen. Denn er garantiert den USA industrielle Verteidigungsfähigkeit gegenüber China. Oder hat man jemals gehört, dass sich der Löwe freiwillig die Zähne und Krallen ziehen lässt?
Ein Börsenrisiko ist gegeben, wenn auch der US-Senat nach den Stichwahlen Anfang Januar demokratisch würde und sei es nur, dass bei einem Gleichstand der Demokraten und Republikaner die neue US-Vizepräsidentin Kamala Harris die entscheidende Stimme hat. Dann könnte man einerseits zwar locker durchregieren. Andererseits könnten die Demokaten auf dumme wirtschaftsschädigende Ideen kommen. Geht es dem Esel zu wohl, geht er aufs Eis. So könnten Steuern dramatisch erhöht oder einzelne Branchen zu sehr an die Kandare genommen werden. Ein marktwirtschaftliches Korrektiv gegenüber staatswirtschaftlichen Freuanfällen ist immer gut.

US-Regierung und Kongress konnten sich bislang nicht auf ein neues Konjunkturprogramm einigen. Erwarten Sie, dass Präsident Biden hier vorankommt?
Die Verhandlungen werden ohne Zweifel hart werden. Aufgrund des Machtverlustes könnten Republikaner anfänglich eine Abwehrhaltung einnehmen. Aber die nächsten Wahlen kommen bestimmt. Man wird an die Zwischenwahlen 2022 denken. Dann will man nicht als Konjunkturschädiger auftreten. Wie in Deutschland gibt es dann Kompromisse. Und wenn diese so aussehen, dass größere Konjunkturpakete im Ausgleich für weniger wirtschaftsschädliche Politik vereinbart werden, hat das für die Börsen ja auch sein Gutes.