Andererseits erlebt sie im hessischen Ortenberg die dritten stehenden Ovationen innerhalb von vier Tagen - in drei verschiedenen Bundesländern. Für Merkel muss das eine Genugtuung sein mit Blick auf die von ihr im Dezember auf dem CDU-Bundesparteitag angestrebte Wiederwahl als Parteichefin.

KAMPF UM DIE POLITISCHE RICHTUNG



Dass die 64-Jährige eine politische Überlebenskünstlerin ist, hat sie in 13 Jahren Kanzlerschaft und 18 Jahren an der Spitze der CDU oft bewiesen. Aber seit Wochen wird die hessische Landtagswahl am Sonntag von ihren innerparteilichen Kritikern zu einer Art Schicksalswahl für Merkel stilisiert. Sollte Ministerpräsident und CDU-Vize Volker Bouffier sein Amt abgeben müssen, könnte es noch vor dem CDU-Bundesparteitag Anfang Dezember einen Aufstand geben, wird hinter vorgehaltener Hand geunkt. Kritiker führen mittlerweile auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble als Kronzeuge für einen nötigen Umbruch an. Denn dieser sagte in Interviews, dass Merkel geschwächt sei. Allerdings verbindet der CDU-Politiker dies mit der Erwartung, dass Merkel dennoch im Dezember als CDU-Chefin bestätigt wird.

Seit der Bayern-Wahl und dem schlechten Abschneiden der CSU sind die Stimmen der Kritiker ohnehin leiser geworden. Das liegt zum einen am beschlossenen Burgfrieden bis zur Hessen-Wahl. Zum anderen aber scheint sich die politische Stimmung etwas zu drehen, seitdem klar geworden ist, dass CSU-Chef Horst Seehofer im Kampf gegen die AfD mit dem Asyl-Thema auf das falsche Pferd gesetzt hat. Selbst die frühere Präsidentin des bayerischen Landtages, Barbara Stamm (CSU), warnt vor einem Rechtsruck der Union: Damit könnte sie im konservativen Wählerspektrum nicht so viele Stimmen gewinnen, wie sie in der Mitte verlieren würde. Tatsächlich scheint der Höhenflug der Grünen in Bayern und Umfragen zu bestätigen, wovor Merkel ihre CSU-Kollegen Seehofer und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt lange gewarnt hatte.

Dass CDU-Konservativen und dem CDU-Wirtschaftsflügel mehr Gegenwind ins Gesicht bläst, macht auch ein Gastbeitrag im "Handelsblatt" deutlich: Darin fordern plötzlich auch frühere Gallionsfiguren wie Friedrich Merz und Roland Koch eine Europapolitik mit mehr Solidarität bis hin zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung.

Auch Merkel geht in die Offensive. Beim Landesparteitag der CDU in Thüringen rechnete sie mit der CSU und parteiinternen konservativen Kritikern ab: "Wenn wir uns für den Rest des Jahrzehnts damit beschäftigen wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen ist und damit die ganze Zeit verplempern, dann werden wir den Rang als Volkspartei verlieren", warnte die CDU-Chefin mit Blick auf die Flüchtlingsdebatte - und bekommt stehenden Applaus ausgerechnet von der kritischen Ost-CDU. Bei der Saar-CDU vergangenen Freitag und den ersten Wahlkampfauftritten in Hessen war dies nicht anders.

"Kampflos abtreten wird Merkel jedenfalls nicht", meint ein CDU-Präsidiumsmitglied. Er verweist auf die Kluft zwischen kritischen Funktionären und Merkels Zustimmung an der Basis. Laut ZDF-Politbarometer wollen zwei Drittel der Unions-Anhänger, dass sie Kanzlerin bleibt. Forsa-Chef Manfred Güllner warnt bereits, die Union könnte ohne Merkel weiter absacken. Allerdings: Die CDU verliert derzeit auch mit ihr - und die persönlichen Zustimmungswerte waren früher höher. Dass die CDU-Chefin den Abgang von Innenminister Seehofer nicht durchsetzen kann oder will, wird ihr als Zeichen von Schwäche angekreidet. Und ihre Kritiker fragen: Was sei gewonnen, wenn Merkel im Dezember mit einem schlechten Ergebnis wiedergewählt werde? Dann wabere die Debatte über eine personelle Erneuerung weiter. Scheitert die CDU in Hessen, dann gerät zudem nicht nur die CSU, sondern auch ein Schwarz-Grün-Kurs unter Druck.

KÄMPFEN - AUCH MIT DEM EINGESTÄNDNIS EIGENER SCHWÄCHEN



So unklar die Entwicklung nach Hessen also sein wird: Die letzten Auftritte zeigen zumindest, wie Merkel vorgehen will. "Es ist eine Zeit, in der man wieder Haltung zeigen muss", betont sie in Ortenberg. Merkel wettert gegen Antisemiten, Rassisten und Ausgrenzer - ohne die AfD namentlich zu nennen. Die FDP bekommt wegen des Abbruchs der Jamaika-Verhandlungen ihr Fett weg als Verantwortungs-Verweigerer. Aber Merkel kämpft nun auch gezielter gegen die Grünen - ohne sie direkt zu nennen. Beispiele dafür sind ihre klare Absage an Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und ihre Diesel-Aussagen. Dies zielt klar auf unzufriedene Unions-Anhänger, die zu den Grünen abzuwandern drohen.

Aber auch ein Bekenntnis zu eigenen Fehlern und Schwächen rückt in den Vordergrund. Für den missglückten Umgang mit der Affäre Maaßen hat sich Merkel bereits öffentlich entschuldigt. In Ortenberg betont sie die eigene Mitschuld, vor 2015 nicht auf die schlechte Versorgung der syrischen Flüchtlinge in Jordanien und Libanon geachtet zu haben. Sie beschreibt klarer die Nöte und Zwänge, in denen sie in Berlin, aber auch in der EU steckt. "Ich sitze da manche Nacht, ringe um jedes Komma. Dann geht die Sonne auf und man ist immer noch nicht fertig." Aber man müsse reden.

Die Reaktion bei den 1800 Zuhörern im Bierzelt ist nicht etwa betretenes Schweigen - sondern tosender Applaus. Die Zuhörer honorieren, dass die Kanzlerin es zumindest versucht. Sie wollen sie kämpfen sehen. Und dann erhöht Merkel den politischen Einsatz noch und nimmt schon vor der Hessen-Wahl bewusst die Verantwortung für Unzufriedenheit im Land auf die Bundesebene und damit auch auf sich: "Wenn Sie Wut haben auf das, was in Berlin läuft - schreiben Sie mir einen Brief", ruft sie ins Bierzelt. "Aber jetzt geht es um Ihre Heimat."