Seit der Rückkehr Spaniens zur Demokratie vor rund 40 Jahren ist noch nie eine Region unter das Kuratel von Madrid gestellt worden. Der Schritt dürfte scharfe Kritik von Unabhängigkeitsbefürwortern auslösen. Sie versammelten sich zu Kundgebungen, an denen auch der Chef der Regionalregierung, Carles Puigdemont, teilnehmen sollte. Er wollte sich zudem am Abend äußern.

Rajoys Kabinett beschloss in einer Sondersitzung die Übernahme der Regierungsgewalt in Barcelona. Dafür werde Artikel 155 der Verfassung aktiviert, erklärte der Ministerpräsident. Damit übernimmt die Zentralregierung die vollständige Kontrolle über die Polizei, Finanzen und öffentlich-rechtlichen Medien Kataloniens. Auch die Befugnisse des Parlaments werden beschnitten. Der Senat, das Oberhaus des spanischen Parlaments, muss den Maßnahmen aber noch zustimmen. Sein Votum wird am kommenden Freitag erwartet.

RAJOY: WOLLEN RECHT WIEDERHERSTELLEN UND "NORMALE" WAHLEN



"Unser Ziel ist es, Recht wiederherzustellen und ein normales Zusammenleben der Bürger zu ermöglichen", sagte Rajoy. Auch gelte es, Wahlen "in normalen Verhältnissen" abzuhalten. Am 1. Oktober hatten sich rund 90 Prozent der Katalanen in einem Referendum für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Die spanische Verfassung lässt dies aber nicht zu. Die Abstimmung war im Vorfeld für illegal erklärt worden, die Polizei ging mit harter Hand gegen Wähler vor. Die Beteiligung lag nur bei 43 Prozent, viele Gegner einer Loslösung von Spanien blieben zu Hause.

Katalonien ist eine wohlhabende Region, in der mit Katalanisch eine eigene Sprache gesprochen und ein Fünftel der spanischen Wirtschaftsleistung erzielt wird. Die Befürworter der Unabhängigkeit argumentieren, dass es der Region ohne Transferzahlungen an ärmere Gebiete Spaniens noch besserginge. Die Regierung in Madrid warnt hingegen, dass eine Abspaltung in Katalonien eine Rezession auslösen könne.

Rajoy sagte, die jüngsten Statistiken zur katalanischen Wirtschaft seien besorgniserregend. Die Wirtschaftskraft könne bei einer Unabhängigkeit um bis zu 30 Prozent sinken. Er forderte Unternehmen auf, in der Region zu bleiben. Seit dem Referendum haben Hunderte Unternehmen ihren Firmensitz aus Katalonien abgezogen. Sie befürchten, sich nach einer Unabhängigkeit außerhalb der Europäischen Union wiederzufinden.

Der Ministerpräsident erklärte, seine Regierung habe eine Übernahme der Regierungsgewalt in Barcelona nicht gewollt. Sie sehe sich aber dazu gezwungen. Die Separatisten um Kataloniens Regierungschef Puigdemont hatten ein zweites Ultimatum der Zentralregierung verstreichen lassen. Darin war eine klare Antwort verlangt worden, ob sich die Region für unabhängig erklärt hat oder nicht.

Puigdemont beriet am Samstag mit seinem Kabinett und wollte um 21.00 Uhr eine Rede halten, wie sein Büro mitteilte. Er hatte Katalonien am 10. Oktober symbolisch für unabhängig erklärt. Am Donnerstag drohte er mit einer offiziellen Erklärung, wenn Rajoy nicht in einen Dialog einwillige.

Bisher wurde erwartet, dass das katalanische Parlament am Montag entscheidet, ob es kommende Woche formal die Unabhängigkeit erklärt. Katalanischen Medien zufolge könnte Puigdemont nach einer solchen Erklärung das Regionalparlament auflösen und eine Neuwahl ausrufen. Damit könnte er der Entscheidung des Senats zuvorkommen, die die von Rajoy angestrebte Kontrolle in Barcelona in Kraft setzen würde.

SCHWERSTE POLITISCHE KRISE SEIT GESCHEITERTEM PUTSCH 1981



Die zuletzt von Puigdemont vorangetriebene Loslösung Kataloniens hat Spanien in die schwerste politische Krise seit dem gescheiterten Militärputsch im Jahr 1981 gestürzt. Die Katalanen selbst sind in der Frage gespalten, im übrigen Land gibt es großen Widerstand gegen eine Unabhängigkeit. Der Streit hat seit Wochen immer wieder Hunderttausende Befürworter und Gegner auf die Straßen gebracht.

Statt einer kompletten Entmachtung der Regionalregierung wäre auch nur eine Entlassung der Verantwortlichen mit bestimmten Aufgabenfeldern denkbar gewesen. Für das radikalere Vorgehen hatte sich Rajoy zuvor Rückendeckung anderer Staats- und Regierungschefs der EU geholt, darunter von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Vermitteln will die EU selbst in dem Konflikt nicht. Rajoy bekam auch Rückendeckung von König Felipe, der sagte, "Katalonien ist und bleibt ein zentraler Teil" Spaniens.

rtr