Seit dem Amtsantritt des reformfreudigen Ministerpräsidenten Narendra Modi vor gut drei Jahren erlebt Indien einen Wirtschaftsboom. Die Wachstumsraten liegen trotz einer verunglückten Währungsreform Ende 2016, die de facto für mehrere Wochen das Bargeld aus dem Verkehr zog, bei beeindruckenden sieben bis acht Prozent. In wenigen Wochen - aller Wahrscheinlichkeit nach am 1. Juli - tritt eine seit Jahren geplante Reform der Umsatzsteuer in Kraft, in Indien Goods and Services Tax (GST) genannt. Die GST ist die bislang größte politische Leistung der Regierung in Neu-Delhi unter Führung von Modis hindu-nationalistischer Partei, der Bharatiya Janata Party (BJP).

Die umfangreichste Steuerreform seit der Unabhängigkeit 1947 wird das ohnehin dynamische Wachstum weiter anheizen. Finanzminister Arun Jaitley geht von mehr als acht Prozent aus. Nitin Gadkari, Minister für das Transportwesen, prophezeit gar zweistellige Wachstumsraten, weil die Reform die bislang horrenden Logistikkosten im Land dauerhaft senken und die Korruption ausbremsen dürfte. Kaufkraftparitätisch ist Indien inzwischen die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Im Kern wird die Steuerreform Unternehmen massiv entlasten. Bislang war die Gesetzeslage geprägt von einem Wust aus Regeln auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene - ein in Jahrzehnten gewachsenes Bürokratiemonster, das Doppelbesteuerungen und ein Ausbremsen der Wirtschaft mit sich brachte, insbesondere im Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen den 36 Bundesstaaten und -territorien. Das neue System, im Ansatz vergleichbar mit dem europäischen Binnenmarkt, wird auf einen Schlag transparenter sein. "Weg von einem Dutzend Steuern hin zu einer einzigen Steuer", sagt Rechtsanwalt Tillmann Ruppert, Associate Partner im Indien-Team von Rödl & Partner, einer Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit Hauptsitz in Nürnberg.

Künftig wird es fünf Umsatzsteuereckwerte geben: null, fünf, zwölf, 18 und 28 Prozent. Darüber hinaus gibt es variable Zuschläge, die im Kern eine Luxussteuer darstellen. Nicht besteuert werden sollen beispielsweise Grundnahrungsmittel wie Getreide, Eier und Frischmilch, während Genussmittel wie Zucker, Kaffee und Tee bei fünf Prozent liegen. Luxusgüter unterliegen dagegen einem Aufschlag auf den Standardsatz von 28 Prozent. Je höherwertiger etwa ein Auto, ein Flugticket oder ein Hotelzimmer, umso größer der Zuschlag auf die Umsatzsteuer. Die billigsten Zugfahrkarten werden überhaupt nicht besteuert.

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Ein riesiger Schritt für Indien



Da die Steuerreform binnen weniger Wochen zu greifen beginnt, ist kurzfristig mit Problemen bei der praktischen Umsetzung zu rechnen. Aktuelle Umfragen legen nahe, dass zwei Drittel aller Unternehmen in Indien - insbesondere die kleinen und mittelgroßen - bislang wenig oder gar nicht auf das neue Regelwerk vorbereitet sind. Dies liegt vor allem daran, dass die neue Umsatzsteuer elektronisch abgewickelt wird, also Investitionen in Computer, Software und Konnektivität erforderlich sind. Ruppert spricht von "Reibungseffekten" und "einigem Durcheinander", das auftreten könnte, glaubt aber nicht an ein bevorstehendes Fiasko à la Währungsreform. Im Gegenteil: "Die Steuerreform ist ein ganz großer Schritt. Die Reform wird den indischen Firmen und der Wirtschaft sehr guttun." Langfristig werden die Auswirkungen im Wirtschaftsraum Indien extrem positiv sein.

Noch heute ist der Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den indischen Bundesstaaten von lähmender Bürokratie und logistischen Engpässen geprägt - und damit auch von Korruption, weil Schmiergeld Abläufe beschleunigen kann. Kilometerlange Staus von Lkw an den Bundesstaatsgrenzen, die auf Abfertigung warten, sind ebenso alltäglich wie ineffizient. Das soll bald Geschichte sein. Innerindische "Grenzkontrollen werden überflüssig werden", sagte Gadkari in einem Interview. Der Warentransport zwischen Bundesstaaten werde künftig "smooth" laufen, ohne staatliche Gängelung. "Die GST wird es indischen Unternehmen erlauben, sich wieder stärker auf ihr Geschäft als auf das Ausfüllen von Formularen und Steuererklärungen zu konzentrieren", sagt Ruppert.

Premier Modi ist mächtiger denn je und in Umfragen beliebt. Seit seinem Amtsantritt haben die Leitindizes von Dalal Street, Indiens Wall Street in Mumbai, um 20 bis 30 Prozent zugelegt, Werte der zweiten und dritten Reihe gar um 100 Prozent und mehr. Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis sind die Bewertungen allerdings inzwischen ähnlich ambitioniert wie in den USA, was bei einem Wirtschaftswachstum von neun Prozent und mehr dann allerdings doch gerechtfertigt erscheint.





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