BÖRSE-ONLINE.de: Schauen wir ein Jahr zurück: Damals waren für den Jahresabschluss 2021 teils Bitcoin-Kurse zwischen 100.000 und 318.000 Dollar prognostiziert. Sie haben sich schon damals von solchen Einschätzungen distanziert. Sind Ziele in dieser Größenordnung langfristig grundsätzlich denkbar?
Timo Emden: Langfristig bleiben Bitcoin-Kurse meiner Einschätzung nach im sechsstelligen Bereich denkbar. Dafür ist es jedoch elementar, dass Kryptowährungen nicht totreguliert werden. Die Branche benötigt weiterhin Freiraum, um sich entfalten zu können, sodass Innovationen nicht direkt im Keim erstickt werden. Bitcoin und Co. sind spätestens seit dem Jahr 2021 endgültig nicht nur an der Wall Street, sondern auch in der klassischen Aktienwelt angekommen. Mit Coinbase ist eine der bedeutendsten Kryptowährungsbörsen weltweit an die Börse gegangen. Nicht zuletzt können Anleger in den USA erstmals in Bitcoin-ETFs auf Basis von Futures investieren - ein Ritterschlag für die Branche und ein großer Schritt in Richtung Mainstream-Akzeptanz.
Auch im kommenden Jahr könnte das meines Erachtens nach wie vor ambitionierte Kursziel in Höhe von 100.000 Dollar anvisiert werden. Kurz- bis mittelfristig sollten an dieser Stelle Anleger jedoch makroökonomische Unsicherheitsfaktoren wie die Coronavirus-Pandemie auf dem Schirm haben. Die schwelenden Risiken sollten Anleger keineswegs verkennen. Dazu zählt in erster Linie eine harte Haltung der wichtigsten Regulierungsbehörden gegenüber Bitcoin und Co.

Im Januar 2021 lag der Bitcoin bei nicht einmal 30.000 US-Dollar. Anfang November erreichte er bei 67.582 Dollar ein neues Rekordhoch. Welche Entwicklung erwarten Sie 2022?
Da uns die Coronavirus-Pandemie womöglich noch eine Weile begleiten wird und eine Zinswende in den Vereinigten Staaten als auch hierzulande nur eine Frage der Zeit ist, dürften die Abwärtsrisiken im kommenden Jahr nicht so schnell vom Tisch verschwinden.
Für neue Höchststände müssen Anleger womöglich vorerst viel Geduld mitbringen. Aus technischer als auch fundamentaler Sicht stehen die Börsenampeln dennoch übergeordnet weiterhin auf Grün. Der langfristige Aufwärtstrend bleibt intakt - vor allem die grassierende Inflation jenseits des Atlantiks könnte Anleger am Ende des Tages immer wieder zurück in Bitcoin und Co. bewegen. Vor diesem Hintergrund könnten auch das Allzeithoch bei rund 69.000 Dollar und höhere Preisregionen im neuen Jahr angegriffen werden.
Gleichzeitig erwarte ich verbale Interventionen durch Elon Musk. Der Tesla-Chef könnte möglicherweise die Wiedereinführung des Bitcoins in den Reihen des E-Autobauers ankündigen.

Welche Chancen und Risiken sehen Sie 2022 für den Bitcoin?
Das Jahr 2022 könnte ähnlich wie 2021 ein klassisches Regulierungsjahr für Kryptowährungen werden. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Nationen ihre eigenen Digitalwährungen auf die Beine stellen wollen, sollte der Gegenwind für dezentrale Kryptowährungen in Zukunft tendenziell stärker werden.
Ein Verbot von Bitcoin und Co. hatten die Vereinigten Staaten auf höchster politischer Ebene zuletzt abgelehnt. Die wichtigsten Nationen in der Krypto-Ökonomie dürften die Daumenschrauben zwar anlegen, aber nicht weniger nach dem Vorbild Chinas festziehen.
Die Unsicherheit über die Coronavirus-Pandemie besitzt auf der Gegenseite jedoch auch das Potenzial, Kryptowährungen im Jahr 2022 an Attraktivität zu verleihen. Sollten neue Virus-Mutationen die wichtigsten Notenbanken dazu zwingen, den Geldhahn weiter offenzuhalten, dürfte dies die Inflationssorgen befeuern und damit Bitcoin und Co. in die Karten spielen.

Wie stark wird die steigende Inflation die Kurse der Kryptowährungen noch befeuern und eignen sich Bitcoin und Co. überhaupt als Inflationsschutz?
Schwelende Inflationsängste hatten Anleger zuletzt verstärkt in alternative Anlageklassen flüchten lassen. Die grassierende Inflation in den USA bleibt allerdings ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite lockt dies die Investoren in alternative Anlageklassen wie etwa Bitcoin. Auf der anderen Seite könnten Zinserhöhungsspekulationen der US-Notenbank die Hausse jederzeit ausbremsen. Womöglich dürfte die Teuerung entgegen vielen Erwartungen auch im kommenden Jahr auf einem konstant hohen Niveau bleiben, was Anleger auf die Suche nach alternativen Anlageformen begeben lassen dürfte.
Anleger erhoffen sich durch die fix limitierte Menge von 21 Millionen Bitcoin-Einheiten einen Inflationsschutz. Der deflationäre Charakter des Bitcoins ist aus langfristiger Perspektive offensichtlich nicht wegzudiskutieren.
Ich halte es allerdings für sehr gewagt, den Bitcoin als sicheren Hafen in turbulenten Marktphasen zu erachten und damit den Vergleich zum Edelmetall Gold zu ziehen. Vielmehr wird der Bitcoin als sogenannter "store of value" (Wertspeicher) und damit als ein langfristiges Investmentvehikel angesehen. Da Kryptowährungen im Allgemeinen als hochriskante Anlageklasse fungieren, nehmen Anleger in unsicheren Zeiten Reißaus, ähnlich wie an den Aktienmärkten. Das Narrativ des "sicheren Hafens" ist vielmehr ein Mythos.

Sie sagten vergangenes Jahr, dass ein Großteil der Kryptowährungen einen stillen Tod erleiden wird. Welche der Währungen werden sich langfristig etablieren können?
Mit mittlerweile mehr als 15.000 verschiedenen Krypto-Assets (Tendenz steigend) dürfte sich ein Großteil zwangsläufig am Ende des Tages nicht durchsetzen können. Wichtig bleibt es aus meiner Sicht Assets ins Auge zu fassen, welche auch einen tatsächlichen praktischen Nutzen stiften und somit nicht lediglich als reines Spekulationsobjekt fungieren sowie gleichzeitig eine hohe Seriosität aufweisen.
Allerdings gibt es auch an dieser Stelle keine Sicherheit für einen Erfolg. Krypto-Assets sind und bleiben hochspekulativ und nicht für jedermann geeignet. Anleger sollten im schlimmsten Fall von einem Totalverlust ihres eingesetzten Kapitals ausgehen.

Welche Eigenschaften müssen solche Kryptowährungen mitbringen?
Diese können vom klassischen "Wertspeicher" (store of value) bis hin zu zugrundeliegenden Technologien mit "intelligenten Verträgen" (smart contracts) sowie DeFi-Anwendungen (Decentralized Finance) nebst NFTs (Non-Fungible Tokens) reichen.
Allerdings gibt es auch hier kein Geheimrezept. Selbst Assets ohne tatsächlichen Nutzen können am Ende des Tages erfolgreich sein. Das Totalverlustrisiko schätze ich hierbei allerdings signifikant hoch ein.

El Salvador hat Bitcoin Anfang September 2021 als erstes Land weltweit als offizielles Zahlungsmittel zugelassen. Werden andere Länder folgen?
Mit der Ukraine, Panama oder Brasilien, welche bereits an eigenen Kryptogesetzen arbeiten, befinden sich weitere Länder in der Warteschlange. El Salvador fungiert in erster Linie als Blaupause für stark dollarabhängige und gleichzeitig wirtschaftlich gebeutelte Länder.
Wichtig bleibt zudem ein vielerorts vergessener Hintergrund, dass ein Bankkonto bei rund 30 Prozent der Weltbevölkerung keine Selbstverständlichkeit ist. Die Einführung des Bitcoins als offizielles Zahlungsmittel öffnet gleichzeitig neue Chancen, um die Bedürfnisse im weltweiten Zahlungsverkehr zu decken.

Es gab immer wieder Prognosen, dass Altcoins den Bitcoin einholen könnten. Wie hat sich der Bitcoin anteilig an allen Kryptowährungen zuletzt entwickelt und wie geht es weiter?
Die Bitcoin-Dominanz befindet sich laut Daten des Branchenportals "CoinMarketCap" seit Frühjahr 2021 wieder unter der Schwelle von 50 Prozent. Zuletzt war dies im Sommer 2018 der Fall. Die Dominanz-Schere hielt sich in den vergangenen Monaten relativ konstant, was auf eine klassische Akkumulationsphase hindeuten könnte. Vor allem die federführende Altcoin-Währung Ether (ETH) konnte in den vergangenen Monaten stark zulegen. Altcoins respektive Währungen aus den zweiten und dritten Reihen könnten auch im kommenden Jahr weiterhin gefragt bleiben. Auch die ein oder andere Überraschung eines Newcomers in die Top Ten Kryptowährungen könnte es geben.

Im Sommer 2021 hat die EZB eine zweijährige Probephase zur möglichen Einführung des digitalen Euros gestartet. Ob er je kommen wird, steht allerdings noch nicht fest. Wie beeinflusst diese Thematik bestehende Cyberdevisen?
Während der Globus über digitale Staatswährungen und den Einsatz einer digitalen Währung rätselt und debattiert, könnten Bitcoin und Co. wieder vermehrt Aufmerksamkeit gewinnen, was die Preisfantasien der Investoren immer wieder befeuern könnte. Dass wichtige Notenbanken wie die Fed oder die EZB Pläne schmieden und mit der Implementierung eigener digitaler Währungen liebäugeln, lenkt das Interesse der Investoren womöglich unabsichtlich auf Bitcoin und Co. Die Diskussionen fungieren als Marketinginstrument für bestehende Krypto-Assets.
Als Konkurrenz dürfte ein digitaler Euro zu Bitcoin und Co. nicht angesehen werden. Dass sich der Währungshüter an der zugrundeliegenden Blockchain-Technologie bedienen wird, bleibt ohnehin fraglich. Es dürfte bei einer Version "light" bleiben, ohne große Änderungen für den Verbraucher. Die eigentlichen Nutznießer könnten am Ende des Tages Bitcoin und Co. werden.

Das Upgrade auf Ethereum 2.0 ist für das zweite Quartal 2022 angedacht. Was bedeutet das für Krypto-Anleger?
Die Vision Ethereums ist es mit "ETH 2.0" die zugrundeliegende Blockchain primär skalierbarer, sicherer und nachhaltiger zu machen. Um Tausende von Transaktionen pro Sekunde unterstützen zu können, sollen die Anwendungen schneller und gleichzeitig günstiger gestaltet werden. Auch der Schutz gegen Angriffe soll forciert werden. Last but not least wird durch die Umstellung des aktuellen Konsens-Mechanismus "Proof of Work" auf "Proof of Stake" die erforderliche Rechenleistung und damit Energie signifikant reduziert.

Die Kritik am Bitcoin-Mining wird wegen des extremen Energiebedarfs immer lauter. Die Sorge vor Umweltschäden wächst. Der Wechsel vom "Proof of Work"-Verfahren zu "Proof of Stake" verspricht im Zuge des Upgrades zu Ethereum 2.0 etwas Abhilfe. Ist das ein zukunftsfähiges Modell oder braucht es noch mehr auf dem Weg zu grünen Kryptowährungen?
In erster Linie ist dies ein starkes Signal an die Konkurrenz. Womöglich könnte es auch Marketing-Instrument für Ethereum sein, um in Zeiten der Energiewende vorne mitmischen zu können und die Konkurrenz gleichzeitig auf Distanz zu halten. Allerdings dürfte die reine Umstellung des Konsensmechanismus nicht ausreichen. Die Politik müsste die Vorschriften forcieren, dass "grüne Energien" zu einem gewissen Prozentsatz in der Krypto-Branche vorgeschrieben werden, ohne dabei das positive Momentum abzuwürgen. Dies ist und bleibt ein schmaler Grat.

Im Oktober startete der erste an Bitcoins gekoppelte ETF an der New Yorker Börse. Könnte das auch eine Signalwirkung für den europäischen Finanzmarkt haben?
Für die Branche fungiert die Einführung des ersten Bitcoin-ETFs in den USA als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Mainstream. Über eine Dekade hatte man für die Einführung eines Bitcoin-ETFs in den USA gekämpft. Die bekanntesten Initiatoren stellen bis heute die Winklevoss-Zwillinge Cameron und Tyler Winklevoss dar, welche im Jahr 2013 den ersten Antrag eingereicht hatten.
Auch in der alten Welt bleiben Krypto-ETFs nur eine Frage der Zeit. Die Finanzwelt hat mittlerweile erkannt, das Krypo-Assets nicht mehr länger ignoriert werden können.

Wie werten Sie den ETF und wie sind die Aussichten?
Der auf US-amerikanischen Grund und Boden lancierte Bitcoin-ETF ist nicht das Produkt, auf das die Anleger gewartet haben. Im Hinblick auf die baldige Zulassung eines Spot-ETFs fungierte die jüngste Zulassung dennoch als eine wichtige Weichenstellung. Der ganz große "Gamechanger" wartet am Ende des Tages womöglich erst mit einer Auflegung des ersten ETFs auf Basis von Spotpreisen.
Auch ein Pendant auf Ethereum könnten im Jahr 2022 auf die Beine gestellt werden.