Für die meisten Börsianer waren die vergangenen zehn Jahre eine großartige Zeit. Vor allem mit Technologieaktien ließ sich viel Geld verdienen. Nicht alle Investoren aber sind glücklich: Fast schon traumatisch war die Dekade für jene, die auf "Value" setzen, also niedrig bewertete Aktien. Der Index MSCI World Value hat über die Dekade im Jahresschnitt fast zwei Prozentpunkte auf den breiten weltweiten ­Aktienmarkt verloren, auf Wachstumswerte sogar über drei. Jetzt aber steigen die Hoffnungen auf ein Comeback.

Value-Investoren setzen auf Aktien, die nach klassischen Bewertungskennziffern wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis oder Kurs-Buchwert-Verhältnis billig sind. Eine plausible Strategie: Ein Anleger kauft Aktien, die bei der Masse der Investoren in Ungnade gefallen und darum günstig zu haben sind. Er wartet, bis die Stimmung wieder dreht, und verkauft dann mit Gewinn. Auf lange Sicht hat das gut funktioniert: Seit 1974 erzielte der MSCI World Value eine klar überdurchschnittliche Rendite.

Die langfristige Überlegenheit des Value-Ansatzes lässt sich psychologisch erklären: "Anleger neigen dazu, die Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren. Darum zahlen sie systematisch zu viel für wachstumsstarke Unternehmen und zu wenig für Value-Aktien", erklärt Norbert Keimling von der Vermögensverwaltung Starcapital. Dass auch die Value-Werte schwächere Phasen durchlaufen, ist normal. Der aktuelle Zyklus aber ist extrem. Das liegt auch daran, dass das Wachstum der Techs ungewöhnlich stark ist und auf der anderen Seite die Umwälzungen in Krisenbranchen wie der Automobil­indu­strie gravierend sind. Inzwischen aber ist der Bewertungsabstand zwischen Wachstumswerten und Value so groß wie zur Jahrtausendwende. Das könnte ein Ende der Flaute signalisieren.

Value-Werte sind Comeback-Kandi­daten für die nächste Phase der Aktienmarktrally. Nach dem starken Kursrutsch Anfang August haben Börsianer die Rezessionsängste abgeschüttelt, viele Indizes nähern sich bereits wieder ihren Rekordständen. €uro am Sonntag stellt drei Strategien mit unterschiedlichem Risikoprofil vor, mit denen Anleger auch jetzt noch profitieren können.

Hohe Kursgewinne


Value-Investoren brauchen Geduld. Wer auf Momentum setzt, muss dagegen vor allem starke Nerven mitbringen: Diese Strategie ist riskant, kann aber in relativ kurzer Zeit hohe Kursgewinne bescheren. Das Prinzip ist ganz einfach: Gewinner bleiben Gewinner, Verlierer bleiben Verlierer. In einer einfachen ­Variante der Momentum-Strategie setzt ein Anleger beispielsweise zum Jahresstart auf jene Aktien eines Index, die in den vorangegangenen zwölf Monaten am stärksten gestiegen sind. Nach sechs Monaten wird das Depot nach dem selben Prinzip neu bestückt.

Eine mögliche Erklärung für den Erfolg von Momentum-Strategien liefert auch in diesem Fall die Psychologie: Anleger neigen dazu, neue Informationen zu unterschätzen, die darum erst mit Verzögerung in den Aktienkursen verarbeitet werden. Je stärker der Börsenwert der Aktie zulegt, desto mehr Investoren werden angelockt. Die einst unterschätzte Aktie wird schließlich teuer, das Momentum flacht ab. Wichtig: Nicht jede Aktie mit starkem Momentum wird zur Kursrakete. Meist wird ein Momentum-Depot von wenigen Aktien nach oben gezogen. Und wenn es an den Börsen auf breiter Front nach unten geht, drohen extreme Verluste. Momentum-Crashs sind für das Überleben der Strategie aber wichtig: Sie stellen sicher, dass nur wenige Anleger die Strategie konsequent umsetzen und diese damit auch künftig funktioniert.

Risiko kontrollieren


Auf lange Sicht lässt sich mit Aktien eigentlich immer Geld verdienen. Für viele Anleger ein großes Problem sind die manchmal extremen Kursschwankungen der Börse. Ein wertvolles Hilfsmittel ist Value at Risk (VaR). Mit dieser Kennziffer kann ein Anleger besonders verlustträchtigen Papieren aus dem Weg gehen. "Auf Basis historischer Daten können mithilfe statistischer Modelle mehrere Tausend Szenarien erzeugt werden, die zeigen, wie sich der Kurs ­eines Wertpapiers plausibel entwickeln könnte. Anhand dieser Szenarien lässt sich der Value at Risk abschätzen und man erhält so ein sehr gutes Bild davon, auf welche Verlustrisiken man sich ­einstellen muss", erklärt Stefan Mittnik, Professor für Finanzökonometrie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Wer systematisch auf Aktien mit einem niedrigen Verlustrisiko setzt, sollte auf lange Sicht bei einem niedrigeren ­Risiko zumindest marktähnliche Renditen schaffen. VaR-Strategien zeigen ihre Stärke vor allem in turbulenten Börsenzeiten, weil sich risikoarme Aktien dann meist besser halten als der Gesamtmarkt.

Zu jeder der drei Strategien stellt die Redaktion auf den folgenden Seiten passende Investments vor.

1. Momentum:
Auf Gewinner setzen


Ein Boom mitten in einem trüben Wirtschaftsumfeld: Weil kabellose Kopfhörer immer beliebter werden, steigt die Nachfrage nach Mikrobatterien massiv an. Für Varta als einen der führenden Hersteller solcher Energieträger bedeutet das steigende Umsätze, aber auch jede Menge Arbeit: Zwei Mal innerhalb weniger Monate kündigte die Firma eine Ausweitung ­ihrer Produktionskapazitäten an. Viele Investoren haben die Dimension des Booms offenbar völlig unterschätzt. ­Anfang des Jahres noch wurde die ­Varta-­Aktie zu weniger als einem Drittel des aktuellen Kurses gehandelt.

Varta ist ein Lehrbuchbeispiel für einen Momentum-Wert: eine Aktie, die über viele Monate hinweg steigt, und das ohne allzu große Sprünge. Ähnliche Phänomene gibt es an der Börse immer wieder. Denn selbst clevere Anleger brauchen Zeit, um die Bedeutung neuer Informationen und Trends zu erfassen. Das kann dazu führen, dass wichtige Neuigkeiten erst über einen längeren Zeitraum im Aktienkurs angemessen verarbeitet werden.

Der US-Wissenschaftler Robert Levy entwickelte in den 60er-Jahren eine Formel, mit der sich die Dynamik einer Aktie messen lässt: Der aktuelle Wochenschlusskurs eines Wertpapiers wird mit dem Durchschnitt der vorangegangenen Wochen verglichen. Je deutlicher der aktuelle Kurs über diesem Durchschnitt liegt, desto stärker ist die Aufwärtsdynamik der Aktie. Im Kursteil von €uro am Sonntag wird zu den wichtigsten Aktie die Relative Stärke nach Levy (RSL) aufgelistet. Basis ist der Durchschnittskurs des Wertpapiers der vorangegangenen 182 Kalendertage, also ziemlich genau eines halben Jahres. Ab Werten von mehr als 100 ist eine Aktie kaufenswert, aber von 120 aufwärts ist das Momentum hoch.

Unterschätzte Klasse


Im SDAX ragt Varta mit dem klar höchsten Momentum aller Mitglieder heraus. An einem Wendepunkt befindet sich Hellofresh: Bei der Firma können Kunden Kochboxen bestellen, mit deren Zutaten man zu Hause ein Menü selbst zubereiten kann. Im zweiten Quartal wiesen die Berliner erstmals seit Börsengang vor knapp zwei Jahren einen bereinigten operativen Gewinn aus. Auch das Momentum der Aktie macht inzwischen Appetit.

Unter den in DAX und MDAX versammelten Unternehmen gibt es derzeit keine Titel mit extrem hohem RSL. Zu den dynamischsten Werten zählt Dialog Semiconductor. Der Chipentwickler hat sich neu aufgestellt: Ein Teil der ­Entwicklung energieeffizienter Chips wurde an den Großkunden Apple verkauft. Dialog investiert jetzt in eine breitere Produktpalette. Wachstumsfantasie bringt unter anderem der neue Mobilfunkstandard 5G.

Noch immer Überraschungspotenzial hat auch Puma. Die Sportartikelfirma beeindruckt vor allem durch starkes Wachstum in China. Dank geschicktem Marketing sollten Schuhe und Klamotten mit dem Raubkatzenlogo auch im Rest der Welt weiter an Popularität gewinnen. Da Puma im Vergleich zu den beiden Branchenriesen Nike und Adidas noch immer klein ist, bleibt ein großes Aufholpotenzial, neben China auch in den USA. Der RSL-Wert des Titels liegt ebenfalls über 100 und damit im Wachstumsbereich. Auch die Puma-Aktie ist nach klassischen Bewertungskennziffern wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis teuer. Das aber gilt für nahezu alle Momentum-Werte. Ein Handikap müssen die hohen Kennziffern nicht sein. Oft sind sie ein Zeichen, dass die Analysten mit ihren Prognosen die Dynamik unterschätzen. Trotzdem sind Aktien mit hohem Momentum riskant. Anleger sollten sich darum gerade bei diesen Aktien mit einem Stoppkurs absichern.

Als Alternative zu Einzelaktien gibt es auch für das Momentum Indexprodukte. Der MSCI World Momentum setzt auf rund 350 Aktien, deren Kurs sich über die vergangenen sechs und zwölf Monate besonders gut entwickelt hat. Die größten Positionen sind die Techriesen Microsoft und Amazon, mehr als 70 Prozent des Volumens verteilt sich auf amerikanische Aktien.

2. Value:
Unter Wert kaufen


Stark wachsende Unternehmen sind bei Börsianern beliebt. Je größer die Dynamik im operativen Geschäft, desto höhere Bewertungskennziffern werden der Aktie zugestanden. Das Problem: Mit zunehmender Größe wird es immer schwieriger, hohe Zuwachsraten zu erzielen. Damit steigt die Gefahr, dass die Erwartungen enttäuscht werden. Aktien mit niedrigen Kennziffern sind dagegen oft angeschlagene Unternehmen. Die Erwartungen sind niedrig und damit auch die Hürden für eine positive Überraschung.

Das ist ein wichtiger Grund, warum Value-Aktien auf lange Sicht den breiten Aktienmarkt geschlagen haben. Klassische Value-­Investoren brauchen allerdings Geduld: Es kann Jahre dauern, bis große Trends drehen. Auch jetzt gibt es keine Garantie für eine schnelle Value-Wende, der hohe Bewertungsabschlag gegenüber Wachstumswerten ist aber eine gute Basis für ein Comeback.

Die große Krisenbranche in Deutschland ist die Automobilindustrie. Der Elektromotor, schärfere Umweltauf­lagen, der Handelskrieg, aber auch Managementfehler haben die Branche in Bedrängnis gebracht. Weil aber auch die Aktienkurse stark unter Druck geraten sind, ist das Bewertungsniveau quer durch den Sektor niedrig. Für die Stamm­aktie von BMW etwa zahlen Börsianer laut Datendienst Bloomberg gegenwärtig das rund Siebenfache der für die kommenden zwölf Monate erwarteten Konzerngewinne, für den DAX das 13-Fache. Der Bewertungsabschlag ist damit ungewöhnlich groß.

Versteckte Werte wittert Milliardär Paul Singer bei AT & T. Über seinen Hedge­fonds Elliott kaufte Singer für über drei Milliarden Dollar Aktien des amerikanischen Telekomriesen. Zen­trale Forderung ist, dass sich der Konzern von Sparten trennt, die nicht zum Kerngeschäft gehören. Ein Kandidat ist der Fernsehsatellitenbetreiber DirecTV. Eine Option dort wäre eine Fusion mit dem Konkurrenten Dish Network. Auch Tochtergesellschaften in Lateinamerika und andere Assets könnten bei einem Verkauf mehr Geld bringen als derzeit im Kurs verarbeitet wird. Elliott ist als hartnäckiger Investor bekannt und darf auf Unterstützung anderer Investoren hoffen.

Konjunktursorgen und ein fallender Ölpreis belasten gegenwärtig die Aktie des Energiekonzerns Royal Dutch Shell. Die jüngsten Quartalsergebnisse lagen unter der Analystenerwartung. Der britisch-niederländische Riese ist im Vergleich zu anderen Energiekonzernen breiter aufgestellt und investiert stärker in umweltfreundliche Alternativen. Das führt nach Einschätzung der US-Investmentbank JP Morgan dazu, dass die Quartalsergebnisse stärker schwanken. Der operative Cashflow von Royal Dutch Shell werde in den kommenden Jahren dennoch steigen. Die Dividendenrendite der Aktie liegt über dem europäischen Durchschnitt.

Europas Schnäppchen


Auch für Value gibt es spezielle Indizes, die Anleger über ETFs abdecken können. Der Indexanbieter MSCI orientiert sich bei seinem Value-Index für Europa an Kurs-Buchwert-, Kurs-­Gewinn-Verhältnis und Dividendenrendite. 225 verschiedene Unternehmen gehen in die Berechnung des Index ein.

Weil die Jagd nach Schnäppchen seit den Zeiten von Benjamin Graham immer schwieriger geworden ist, wird der Begriff Value inzwischen oft großzügig definiert. Viele Value-Fonds setzen auf Aktien mit krisenfestem Geschäftsmodell und nehmen dabei deutlich höhere Bewertungskennziffern in Kauf.

Dieses Vorgehen hilft, Schwächephasen klassischer Value-Werte zu überbrücken. Zu den Top-Fonds gehört der international investierende UniValueFonds von Union Investment. Auswahlkriterien der Fondsmanager dort sind unter anderem Unternehmensbewertung und eine "tendenziell geringe Schwankungsintensität".

3. Value at Risk:
Volatilität nutzen


Risiko und Rendite stehen an der Börse in einem engen Zusammenhang: Langfristig, über Zeiträume von vielen Jahren, sind überdurchschnittliche Renditen meist nur mit einem entsprechend hohen Risiko zu erzielen. Kurzfristig sieht das anders aus: "Wenn die Volatilität und damit das Risiko einer Aktie nach oben schießt und dort verharrt, deutet das auf eine zunächst schwächere Wertentwicklung dieser Aktie hin. Wenn die Volatilität sinkt, steigen dagegen die Chancen auf eine überdurchschnittliche Performance", erklärt Professor Stefan Mittnik von der LMU München.

Dieses Phänomen können Anleger mit der Kennziffer Value at Risk (VaR) nutzen: Exklusiv für €uro am Sonntag berechnet das Institut für Quantitative Finanzanalyse das Verlustrisiko der wichtigsten internationalen Aktien. Die im Kursteil dieser Zeitung aufgelistete Variante schätzt die Verlusthöhe, die das entsprechende Wertpapier in einer Woche mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent nicht überschreitet. Ein VaR von 4,0 bedeutet also, dass diese Aktie mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent nicht mehr als vier Prozent verlieren sollte. Systematisch anwenden kann ein Anleger die Kennziffer beispielsweise, indem er Aktien mit einem niedrigen VaR kauft und so lange hält, bis die Kennziffer deutlich steigt.

Beim Blick auf die Daten fällt auf, dass bestimmte Branchen unter den Aktien mit niedrigem VaR besonders oft vertreten sind. Europaweit, aber auch in den USA sind das vor allem die Hersteller von Konsumgütern, deren Geschäft kaum von den Schwankungen der Konjunktur abhängt. Die Notierungen von Unternehmen wie Nestlé sind allerdings bereits stark gestiegen.

Nachholpotenzial in diesem Sektor hat Unilever. Der niederländisch-britische Konzern lieferte zuletzt leicht enttäuschende Zahlen. Das Management erwartet für das Gesamtjahr ein Umsatzwachstum in der unteren Hälfte seiner mittelfristig angestrebten Spanne von drei bis fünf Prozent. Die Invest­mentbank Goldman Sachs sieht aber für das kommende Jahr eine Wachstumsbeschleunigung bei Unilever, angetrieben durch die für den Konzern besonders wichtigen Schwellenländer Indien, Brasilien und Indonesien.

Defensives Wachstum


Die Supermarktkette Walmart hat dank ihres riesigen Filialnetzes in den USA eine starke Marktposition und profitiert vom weithin robusten Konsumklima in ihrem Hauptabsatzmarkt. Trotz steigender Kosten durch Handelskrieg und Lohnerhöhungen schraubte Walmart im August seine Jahrespro­gnose nach oben. Ein wichtiger Wachstumstreiber bleibt auch für den Konzern das Internet. Die Supermarktkette sollte weiterhin moderates Wachstum bieten. Der VaR der Aktie ist einer der niedrigsten im S&P 500.

Etliche Aktien mit niedrigen VaR-Werten gibt es auch in der Finanzindustrie, unter anderem bei Munich Re. Das Geschäft des vor allem in der Rückversicherung tätigen Konzerns leidet immer wieder mal unter Schadenzahlungen nach Naturkatastrophen. Dank der starken Substanz kann Munich Re aber auch in turbulenten Jahren eine hohe Dividende ausschütten.

Anleger können eine VaR-Strategie auch über spezielle Produkte abbilden: Der Finanzen Verlag, in dem auch diese Zeitung erscheint, bietet ein Wikifolio (ISIN: DE 000 L59 HDH 9), das auf Basis der Kennziffer Value at Risk in die attraktivsten Aktien des DAX investiert.

Nach einem ähnlichen Prinzip, aber in ein deutlich größeres Portfolio investieren Indexfonds, die auf Aktien mit einer unterdurchschnittlichen Volatilität setzen. Der MSCI World Minimum Volatility beispielsweise wählt rund 350 Aktien internationaler Unternehmen aus. Über die vergangenen fünf Jahre hat ­dieses Portfolio im Schnitt den breiten weltweiten Aktienindex MSCI World um mehr als zwei Prozentpunkte geschlagen.