Herr Prof. Schmidt, die Fragezeichen hinter der Zukunft Großbritanniens in der EU werden von Tag zu Tag größer. Nach einer vor Wochenfrist veröffentlichten Umfrage sind inzwischen 45 Prozent der Briten für einen Austritt aus der EU. Damit haben die Brexit-Befürworter erstmals vor dem Referendum am 23. Juni die Nase vorn. Wie besorgt sind Sie?
Mir macht das schon Sorgen, denn die Unsicherheit über den Ausgang des Referendums ist hoch - das war ja auch schon der Fall, als das Pendel bei den Umfragen noch leicht in die andere Richtung zeigte - und die Konsequenzen für Europa sind nur schwer abzusehen und möglicherweise schwerwiegend.

Welche Folgen hätte ein Brexit denn für die britische Wirtschaft und die Wirtschaft in der EU?
Ein Brexit würde kurz- und mittelfristig voraussichtlich erhebliche Wachstumseinbußen für Großbritannien nach sich ziehen, u.a. durch die Wirkung von negativen Vertrauenseffekten und Einbußen beim internationalen Handel. Die dämpfenden Wirkungen auf das Wirtschaftswachstum, die für die restliche EU zu befürchten wären, sind schwer zu quantifizieren und hängen sehr von der Intensität des Austauschs der einzelnen Mitgliedsländer mit Großbritannien ab, dürften aber insgesamt geringer ausfallen als für Großbritannien selbst.

Deutschland pflegt traditionell enge Beziehungen zu Großbritannien. Wie schlimm wäre ein Brexit für uns?
Sofern dann noch größere Verwerfungen beim Prozess der europäischen Integration ausblieben, würde Deutschland aus meiner Sicht vor allem die marktwirtschaftliche Stimme Großbritanniens in allen Verhandlungen zur Weiterentwicklung der EU vermissen, die kurzfristigen Wirkungen auf das deutsche Wirtschaftswachstum dürften hingegen eher moderat sein.

Aktuell erwartet der Sachverständigenrat für das laufende Jahr in Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent. Ließe sich diese Prognose im Falle eines Sieges der EU-Gegner noch halten?
Bei gesamtwirtschaftlichen Prognosen sollten Forscher sich nicht von Einzelereignissen zu übermäßigen Anpassungen verleiten lassen, so bedeutend diese Ereignisse langfristig auch sein mögen. Ein Sieg der EU-Gegner bedeutet ja noch keinen EU-Austritt über Nacht. Deutschland würde auch schon durch die geringeren Handelsverflechtungen kurzfristig in einem geringeren Ausmaß betroffen sein als zum Beispiel Irland, Belgien oder Frankreich. Eine alternative Konjunkturprognose, die singulär die Wirkung eines Brexits einpreist, gibt es daher von uns jetzt nicht.

Abgesehen von den Folgen für die Konjunktur würde ein Ausscheiden der Briten noch weitere tiefgreifende Fragen aufwerfen. Welches wären aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?
Aus meiner Sicht besteht die größte Ironie eines möglichen Brexit-Votums darin, dass in seinem Nachgang durch langwierige Verhandlungen erst wieder mühsam der Zugang zum EU-Binnenmarkt hergestellt werden müsste, den Großbritannien für das Wachstum seiner jetzt bereits vergleichsweise offenen und flexiblen Volkswirtschaft doch so dringend braucht. Welche Kompromisse Großbritannien dabei gegenüber den EU-Verhandlungspartnern eingehen müsste, ohne aber in der künftigen Weiterentwicklung der EU eine eigene Stimme zu besitzen, würde sich zeigen müssen. Aber es fällt schwer, jeglichen langfristigen Vorzug eines Brexits aus Sicht Großbritanniens zu erkennen.

Die Börsen sehen die Brexit-Diskussion ebenfalls mit wachsender Nervosität. Was erwarten Sie im Falle eines Brexit-Szenarios an den Finanzmärkten: Chaos und eine rasche Erholung - oder eine länger anhaltende Schwäche am Markt?
An den Spekulationen darüber mag ich mich ungern beteiligen.

Der Sachverständigenrat hat im März auch vor der angespannten Lage bei vielen Kreditinstituten gewarnt. Die anhaltende Niedrigzinspolitik bedrohe das Geschäftsmodell vieler Banken, hieß es. Könnten die Banken in Deutschland und Europa einen Brexit locker wegstecken oder würde die Lage durch eine solche Entwicklung noch mal deutlich verschärft?
Die größte Gefahr entsteht nach einer lang anhaltenden Niedrigzinsphase für das Geschäftsmodell einzelner Banken und Versicherungen, wenn die Zinsen wieder rasch steigen sollten. Insofern hatten wir in unserem Jahresgutachten eine ganz andere Entwicklung diskutiert, als sie jetzt durch den Brexit anstünde. Unsere Sorgen im Hinblick auf die Entwicklung der Finanzstabilität bleiben aber allgemein bestehen.

Auf Seite 2: Welche Folgen ein Brexit für die EU haben könnte





Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen dürfte ein Brexit auch weitreichende politische Folgen für die EU haben. Der Sachverständigenrat befürchtet "Auflösungstendenzen". Hat die EU ohne Großbritannien überhaupt noch eine Zukunft?
Wir diskutieren bei einem möglichen Brexit über ein einschneidendes Ereignis für den europäischen Integrationsprozess, der in seinen langfristigen Wirkungen vermutlich drastischer sein dürfte, als es der mit viel Mühe immer wieder verhinderte "Grexit", also das Ausscheiden Griechenlands, gewesen wäre. Natürlich kann die EU auch ohne Großbritannien eine Zukunft haben, aber sowohl die Idee eines gemeinsamen Europa als zunehmend enger zusammenrückende Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft als auch die Stimme Europas im weltpolitischen Geschehen wären beschädigt. Über mögliche langfristige Konsequenzen lässt sich nur spekulieren. Ob potenzielle Nachahmer einen Austritt attraktiv fänden, hinge nicht zuletzt davon ab, wie deutlich die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien ausfallen würden.

Großbritannien hat innerhalb der EU gemeinsam mit Deutschland für ein gewisses Gegengewicht zur expansiven Haushaltspolitik vieler Südländer gesorgt. Droht bei einem Abschied der Briten nun endgültig fiskalpolitischer Free-Style a la Frankreich oder Italien und ein Tiefschlag für den Euro?
Bei der wirtschaftlichen Erholung Europas nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise geht es zum einen um die Stärkung des Potenzialwachstums. Da können und müssen die einzelnen europäischen Volkswirtschaften jeweils selbst viel tun, daran würde ein Brexit nichts ändern. Aber bei der gemeinsamen Währung geht es auch um die Wiederherstellung des Vertrauens in deren Stabilität. Das hat viel mit den Signalen zu tun, die von Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung und der Einhaltung der gemeinsamen Fiskalregeln ausgehen müssten. Die marktwirtschaftlich orientierte Stimme Großbritanniens würde nicht zuletzt als Gegengewicht immer dann fehlen, wenn Befürworter staatlich finanzierter Konjunkturprogramme für weniger Haushaltsdisziplin plädierten.

Welche Konsequenzen müsste die EU konkret ziehen, um ein Auseinanderbrechen Europas zu verhindern?
Mit dem Referendum ist aus meiner Sicht unabhängig von seinem Ausgang nicht zuletzt das Signal verbunden, dass die Mitgliedstaaten der EU einiges zu klären und viel zu erklären haben. Sie müssten vor allem klären, welche Aufgaben tatsächlich gemeinschaftlich gelöst werden sollten, indem sie zum Beispiel die Kraft für eine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise finden, deren Lasten solidarisch verteilt sind. Sie müssten aber auch klären, welche Aufgaben im Sinne des Subsidiaritätsprinzips eindeutig in der eigenen Verantwortung liegen, insbesondere eine Wirtschafts- und Reformpolitik, die das Potenzialwachstum in Europa revitalisiert. Und sie müssten schließlich ihren Bürgern besser erklären, dass die Entscheidung dazu, einen gemeinsamen Binnenmarkt und somit langfristig die Aussicht auf größere wirtschaftliche Prosperität zu schaffen, nicht ohne einen stärkeren Wirtschafts- und Systemwettbewerb innerhalb Europas denkbar ist.


Das Interview mit Prof. Christoph M. Schmidt erschien Anfang Juni auf www.boerse-online.de. Aus aktuellem Anlass haben wir es heute morgen nach oben gezogen.