Willy Schlieker, 1914 in Hamburg als Sohn eines Hafen­arbeiters und Kesselflickers geboren, hatte in der Hansestadt die Realschule besucht, musste jedoch als 16-Jähriger nach der mittleren Reife die Schule verlassen und sich Arbeit suchen, weil sein Vater inzwischen arbeitslos geworden war. Es war die Zeit der großen Wirtschaftskrise. Der junge Schlieker, der eigentlich Kunstgeschichte hatte studieren wollen, arbeitete erst auf einem Bauernhof und machte dann eine Ausbildung zum Kaufmannsgehilfen bei einer Hamburger Import-Export-Firma. Nach dem Abschluss seiner Lehre wurde er vo­rübergehend arbeitslos, bevor er eine Anstellung als Schreiber bei der Hamburger SS und später beim Obersten Parteigericht der NSDAP in München fand. Dort fiel er jedoch wegen Amtsmissbrauchs negativ auf. Als 19-Jähriger ging er 1933 in den Karibikstaat Haiti, um dort deutschen Zement und Porzellannachttöpfe zu verkaufen.

Er kehrte erst 1938, vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nach Deutschland zurück. Er wurde Exportleiter bei einer Dortmunder Stahlfirma und bald darauf Nachwuchsmanager in der Rohstoffabteilung der riesigen Vereinigten Stahlwerke AG. Diese Position nutzte der ehrgeizige Schlieker als Sprungbrett in die NS-Rüstungsverwaltung. 1942 wurde er zum Amtsgruppenchef für Eisen und Stahl in Albert Speers einflussreichem Rüstungsministerium befördert. Er war noch keine 30 Jahre alt, da lenkte er bereits faktisch die gesamte Stahlproduktion in der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs. Schlieker gehörte zu "Speers Kindergarten" - angeblich prägte Hitler persönlich den Begriff für den rüstungswirtschaftlichen Apparat, in dem der selbst erst 37-jährige Rüstungsminister ganz auf junge Techniker und Verwaltungsspezialisten gesetzt hatte.

Nach Kriegsende arbeitete Schlieker für die britische Besatzungsmacht und war im Frühjahr 1946 wieder für Eisen und Stahl zuständig, diesmal im Zentralamt für Wirtschaft in der britischen Besatzungszone. 1948, nach der Währungsreform, machte er sich selbstständig, obwohl er beinahe mittellos war. Er war damals bereits im Besitz des Firmenmantels des alten schlesischen Einzelhandelskonzerns Otto R. Krause, den er von der Witwe Krause für 35 000 Mark gekauft hatte. Das war sein Ticket zum lukrativen und exklusiven Stahlhandelsgeschäft.

Spektakulärer Aufstieg


Schlieker, ein Außenseiter mit immer noch guten Kontakten zu den Managern im ehemaligen Rüstungsministerium und zur britischen Zonenverwaltung, begann mit 3600 Mark Startkapital. Nach wenigen Jahren war er Millionär. Er schaffte diesen spektakulären Aufstieg durch seinen lukrativen Handel mit der sowjetischen Besatzungszone, aber auch mittels verwegener Dreiecksgeschichten um­ amerikanische Kohle und deutschen Stahl.

Mit den schnell verdienten Millionen konnte sich der joviale und hemdsärmelige Proletariersohn aus Hamburg die Perlen der deutschen Stahl- und Eisenindustrie zusammenkaufen und einen eigenen Industriekonzern schaffen: 1952 erwarb er im Rheinland zwei Walzwerke und schuf damit ein Monopol in der Elektro­blechherstellung - die größeren Konkurrenzwerke waren alle von den Alliierten demontiert worden.

Willy Schliekers Niedergang begann, als er von der Ruhr an die Elbe zurückkehrte und in Hamburg das Ottensener Eisenwerk übernahm, ein Maschinen- und Schiffbauunternehmen, in dem sein Vater als Kesselschmied gearbeitet hatte. Damit erfüllte er sich seinen großen Traum, Werftchef und Reeder zu werden. Die Werft auf dem zerstörten und demontierten Gelände auf der Elbe-Insel Steinwerder, die früher dem renommierten Unternehmen Blohm & Voss gehört hatte, baute er zu einer modernen Großwerft aus, die seinen Namen trug.

Schlieker, der inzwischen an der vornehmen Elbchaussee in einem prächtigen Landsitz wohnte, zog eine riesige Schiffsbauhalle, Kais, Büros und Lagerhallen für 80 Millionen Mark hoch. Die Werft war Willy Schliekers ­ganzer Stolz. 1959 lief der erste Schiffsneubau vom Stapel - der Massengutfrachter Rhine Ore. Für den Arbeitersohn, der zugegebenermaßen auch aus sentimentalen Gründen nach Hamburg zurückgekehrt war, waren solche Schiffs­taufen wichtige Ereignisse, und er setzte sich dabei gerne in Szene. Die hochmodernen neuen Werftanlagen wurden allerdings just zu der Zeit voll produktionsfähig, als der jahrelange Schiffsbauboom in eine Flaute geriet. Schlieker lief Gefahr, seinen unternehmerischen Erfolg zu verspielen: Er musste die außerordentlich hohen Investitionen in die Werft verdienen und den Superbetrieb vollbeschäftigt halten.

Von den rund 800 Millionen Mark, die sein Konzern jährlich umsetzte, entfielen allein 500 Millionen Mark auf seine Eisenhandelsfirma in Düsseldorf. Das brachte ihm einen jährlichen Gewinn von fünf bis sechs Millionen Mark ein. Die gleiche Summe warf auch sein Walzwerk im Rheinland ab, inzwischen eines der modernsten Elektroblechwalzwerke in Europa. Bisher hatte Schlieker mit dem wachsenden Gewinn und Umsatz jedes Jahr seine Investitionen bezahlen können. Als jedoch seine Werft in die Krise geriet, fehlten ihm die Rücklagen und die Möglichkeit, sich durch Kredite über Wasser zu halten. Er war gezwungen, aus seinen florierenden Unternehmen an der Ruhr immer größere Mittel abzuziehen und sie in die Hamburger Werft zu stecken. Die Finanzierungsmodalitäten im Werftgeschäft hatten sich dramatisch verändert. Bisher hatten die Auftraggeber einen wesentlichen Teil der Mittel für den Bau der Schiffe vorstrecken müssen. Jetzt aber konnten sie angesichts des verschärften Wettbewerbs den konkurrierenden Werften auf der ganzen Welt ihre Bedingungen diktieren. Die Anzahlungen und die Zahlungen während der Bauzeit der Schiffe fielen immer knapper aus.

Spektakulärer Untergang


1962 geriet Schliekers Konzern dann in eine Liquiditätskrise und brach schließlich zusammen. Es war die bis zu diesem Zeitpunkt spektakulärste deutsche Wirtschaftswunderpleite. Forderungen für mehr als 80 Millionen Mark wurden angemeldet, 1967 endete das Konkursverfahren mit einem Zwangsvergleich. Schlieker zog sich daraufhin in das oberbayerische Gebirgsdorf Ramsau bei Berchtesgaden zurück, in ein Jagdhaus, das er 1953 bauen hatte lassen und das er seiner Frau als Alterssitz überschrieben hatte. Er spielte mit den Bauern Schafkopf und half mit, das Wintersportgeschäft in dem Ort anzukurbeln. Er erschloss dort das Skigebiet Hochschwarzeck und ließ eine Sesselbahn und Skilifte bauen. Die Anlagen sind heute noch in Betrieb. Der Hanseate, der noch nie in seinem Leben auf Skiern gestanden hatte, wurde zum ungekrönten Schneekönig von Ramsau. In seiner neuen bayerischen Heimat starb er 1980 an Krebs.