Bernd Raffelhüschen » Der Wirtschaftsprofessor über die Fehler des jetzigen Rentensystems, die optimale Alternative, Morddrohungen - und die ungewöhnliche Methode, nach der er Aktien kauft. Von Martin Reim, €uro am Sonntag

Bernd Raffelhüschen tut was für die Rente, drei Kinder hat er in die Welt gesetzt. Sein jüngster Sohn geht noch zur Schule. Wenn es Demonstrationen gegen das jetzige Rentensystem gäbe, würde er ihm erlauben, während der Unterrichtszeit hinzugehen, sagt der Wissenschaftler mit einem Schmunzeln. In der Sache ist es ihm aber bitterernst. Die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen der 62-Jährige sich selbst zählt, leben nach seiner Ansicht zulasten der künftigen Generation. "Es findet eine krasse Umverteilung von Jung zu Alt statt", sagt er - damit ist ein guter Anfang für das Gespräch gesetzt.

€uro am Sonntag: Sie leiten das Forschungszentrum Generationen­verträge. Existiert bei der Rente überhaupt noch ein Generationenvertrag, der diesen Namen verdient?
Bernd Raffelhüschen: Im Moment ja. Aber wir erleben die Ruhe vor dem Sturm. Spätestens ab dem Jahr 2030 wird jeweils ein starker Jahrgang in die Rente und ein geburtenschwacher Jahrgang in das Berufsleben eintreten. Und wir Älteren werden immer länger leben. Wenn wir dieselben Leistungen einfordern, die es derzeit gibt, werden die Beitragssätze für unsere Kinder um die 30 Prozent liegen.

Was wäre eine gerechte Lösung?
Wenn sie genauso 20 Prozent zahlen wie wir. Denn die können ja nichts dafür, dass wir so viele sind. Aber wir können etwas dafür, dass sie so wenige sind. Da wird eine Selbstbereicherungsanlage der geburtenstarken Jahrgänge, zu denen auch ich gehöre, zuungunsten der eigenen Kinder installiert. Das ist nicht akzeptabel. Und unsere Kinder werden das nicht mitmachen.

Haben sie überhaupt eine Wahl?
Sie können Beamte werden und nichts in die Rentenkasse einzahlen. Oder sie werden selbstständig und zahlen nichts ein. Oder sie gehen ins Ausland. Die Sprachkenntnisse gerade der gebildeten Kinder sind sehr groß.

1900 hat ein Bauer vier Nichtbauern mit Nahrungsmitteln versorgt, heute sind es über 100. Also müssen Zahlenrelationen nicht unbedingt ein Problem sein.
Das ist eine Milchmädchenrechnung. Ein immer größerer Teil des Kuchens wird an die Rentner gehen, wenn man alles so lässt, wie es jetzt ist. Umgekehrt bleibt für die Beitragszahler dann weniger übrig.

Demnach sollte man jetzt Reformen ­angehen, bevor es zu spät ist?
Ich bezweifle, dass es dafür die nötigen Mehrheiten gibt. Bei den Teilnehmern der Bundestagswahl 2017 lag der Alters­durchschnitt zum letzten Mal in der deutschen Geschichte unter 55 Jahren. Das heißt: Künftig wird über die Hälfte der Wähler entweder rentennah oder schon in Rente sein. Wenn man denen Rente entziehen will, gäbe es politisch eine schwierige Situation.

Der jetzige Finanzminister Olaf Scholz war von 2002 bis 2004 SPD-General­sekretär und hatte sich sehr für Generationengerechtigkeit eingesetzt. Davon ist heute kaum etwas zu spüren. Was könnte da passiert sein?
Ganz einfach: Politiker müssen sich nach ihren Wählern richten. Jede Volkspartei muss populär sein, so auch die SPD. Manchmal gelingt es dennoch, mehr Generationengerechtigkeit her­zustellen. Das ist unter Kanzler Gerhard Schröder gelungen, als die Vorschläge umgesetzt wurden, die die damalige Rürup-Kommission gemacht hatte.

Sie waren Teil dieses Gremiums. Auch heute gibt es eine Rentenkommission der Regierung, diesmal sind Sie nicht dabei. Warum?
Da müssen Sie andere fragen. Aber ­eines ist klar: Eine Kommission, die so stark politisch interessensabhängig besetzt ist wie die aktuelle, wird nicht viel bringen. Noch mal: Wir müssen langsam zu Potte kommen. Schon jetzt sind Zahlungen an die Rentenversicherung der größte Einzelposten im Bundeshaushalt. Das sind 100 Milliarden Euro pro Jahr! Und wir bauen immer weitere unsichtbare Schulden durch die Rentenversicherung auf. Das ist fast ein Bruttoinlandsprodukt, drei Billionen Euro, die werden irgendwann präsentiert in Form von Beitragserhöhungen.

Wie würde eine unverfälschte Raffelhüschen-Rente aussehen?
Die Rente zu retten, ist aus meiner Sicht ganz einfach: Jeder Mensch kann zwischen 60 und 70 Jahren aus dem Erwerbsleben aussteigen, wann er will. Aber für jeden Monat, den er früher geht, bekommt er einen Abschlag von 0,4 Prozent auf seine Rente. Also 4,8 Prozent pro Jahr. Somit bekomme ich nur die Hälfte der Rente, wenn ich mit 60 gehe. Dieses System hat sich in skandinavischen Ländern bewährt. Und es würde nach unseren Berechnungen voraussichtlich dazu führen, dass bei uns der Rentenbeitrag bei 20 Prozent bleibt.

Gerade in Handwerksberufen sind viele Menschen spätestens mit 60 gesundheitlich ruiniert. Wollen Sie solche Leute im Ernst mit der halben Rente abspeisen?
Wenn Sie den berühmten, angeblich so anfälligen Dachdecker meinen, der oft bei solchen Gelegenheiten herausgeholt wird ...

... ja, nehmen wir ihn gern als Beispiel.
Ein 60-jähriger Dachdecker muss nicht mehr unbedingt aufs Dach geschickt werden. Er kann ohne Weiteres andere Dachdecker anleiten oder im Büro arbeiten. Aus der Knappheit der Beschäftigung ergeben sich da auch noch andere Möglichkeiten.

Welche?
Die Tarifparteien könnten sich darauf einigen, dass Dachdecker in jungen Jahren mehr Lohn bekommen, um die beschriebenen Nachteile auszugleichen. Dann zahlen sie mehr in die Rentenkasse ein und bekommen auch mehr heraus, um einen früheren Renteneintritt zumindest teilweise zu kompensieren. Generell ist körperliche Arbeit oft nicht mehr so hart wie in vergangenen Jahrzehnten, beispielsweise auch beim viel zitierten Fließbandarbeiter. Zudem ist der heutige 70-Jährige um einiges fitter als der 60-Jährige in den 60er-Jahren.

Das mag schon sein, aber was folgern Sie daraus?
Es ist ihm ohne Weiteres zuzumuten, länger zu arbeiten. Denn wer länger lebt, kann nicht erwarten, dass andere ihm das finanzieren. Auch in anderer Hinsicht würde mein Vorschlag dazu beitragen, dass unser - im Prinzip gerechtes - Rentensystem gerecht bleibt.

Wie meinen Sie das?
Ich meine die Leistungsgerechtigkeit. Wenn jemand lange gearbeitet hat, kann er mit seiner vollen Rente gehen. Wenn ich durchschnittlich verdiene und damit den Durchschnittsbeitrag zahle, kriege ich eine durchschnittliche Rente. Wenn ich doppelt so gut war, kriege ich das Doppelte. Wenn ich halb so gut war, die Hälfte. Und wenn das nicht reicht, haben wir auch ein gutes System. Jeder wird durch die Grundsicherung auf etwa 800 Euro aufgestockt. Es sei denn, er ist reich. Dann bekommt er halt weniger Rente. Das ist doch fair! Es ist lebensleistungsgerecht und verursachergerecht. Leider wurde in den letzten Jahren einiges verschlimmbessert, etwa durch die abschlagsfreie Rente mit 63 von Andrea Nahles ...

... die im Jahr 2014 unter der dama­ligen Bundessozialministerin ­eingeführt wurde.
Übel wäre auch, wenn es bei der geplanten Grundrente nur eine beschränkte Einkommensprüfung gä­be, wie es die Regierung vorhat. Ohne komplette Bedürftigkeitsprüfung durch das Sozialamt ist keine Zielgenauigkeit zu gewährleisten.

Kann Migration helfen, unsere ­Rentenprobleme zu lösen?
Es gibt gute Migration und schlechte Migration. In den vergangenen Jahren kamen Leute in unser Land, die im Schnitt um die 30 sind und erst mal sechs bis acht Jahre lang für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden müssen. Das funktioniert nicht. Wir brauchen jüngere Menschen, so um die 20, die sehr qualifiziert sind. Da ist es egal, welche Haut- und Haarfarbe sie haben, solche sind immer willkommen.

Sie haben schon seit Langem eine Professur im norwegischen Bergen. Das Land unterhält einen staatlichen Pensionsfonds, der ausschließlich in Aktien investieren darf. Wäre das ein Vorbild für Deutschland?
Ich wäre zurückhaltend, nur auf Aktien zu setzen. Mein Vater hat immer gesagt: Streue das Risiko - ein Drittel Aktien, ein Drittel Immobilien, ein Drittel Anleihen. Das halte ich auch im größeren Maßstab für vernünftig. Die norwegische Lösung ist auch in anderer Hinsicht nicht auf Deutschland übertragbar.

Warum?
Bei uns wäre stets die Gefahr, dass Politiker auf das Geld zugreifen und es für andere Zwecke nutzen. In Norwegen ist das unwahrscheinlich, weil jedes Jahr große Haushaltsüberschüsse entstehen und keine Notwendigkeit für Missbrauch besteht.

Zwei aktienorientierte Vorschläge, die Extrarente und die Deutschlandrente, wollen die Einlagen als privates Sondervermögen deklarieren. Wären sie dadurch sicher?
Es ist im Prinzip nichts vor der Politik sicher. Wenn Politiker irgendwie eine Chance auf Geld bekommen, ist das so ähnlich, als wenn Sie einem Hund zwei Knochen hinschmeißen und sagen: Einer ist für morgen. Denken Sie an die Rücklagen, die für die Pensionen der Beamten bei Bahn, Post und Telekom aufgebaut wurden. Die sind alle weg. Das bedeutet auch hier: Die ältere Generation hat es gut, und die Jüngeren tragen die Last.

Sie sind nicht gerade freundlich ­gegenüber Rentnern. Stimmt es, dass Ihnen deshalb schon Prügel ­angedroht wurden?
Ja, mehrfach, auch wenn das schon einige Zeit her ist. Außerdem bekomme ich viele böse Mails und Briefe, in denen unterschwellig mit Gewalt gedroht wird. Wir haben im Institut einen Ordner dafür, auf dem "Crazy" steht. Ich sammle Dienstaufsichtsbeschwerden und habe schon fünf, sechs Anzeigen wegen Volksverhetzung hinter mir. Meine Frau hat schon am Telefon Morddrohungen entgegengenommen.

Sie gelten vielen als Lobbyist der Finanzindustrie, weil Sie beispielsweise im Aufsichtsrat des Versicherers Ergo sitzen und Vorträge für die Branche halten. Würde es Ihrer Glaubwürdigkeit nicht guttun, wenn Sie diese Tätigkeiten sein ließen?
Ich sitze zwar bei einer Versicherung im Aufsichtsrat, aber auch beim ­Augustinum, also der evangelischen Diakonie, und der Volksbank Freiburg. Die Mandate sind separat vergütete Kontrollfunktionen, also privates Einkommen, und damit eine Nebentätigkeit, die offengelegt und genehmigt ist. Gleichwohl denke ich darüber nach, mittelfristig aus diesen Tätigkeiten auszusteigen.

Wann?
Das hängt mit meinem Alter zusammen und ist noch nicht spruchreif.

Wie sorgen Sie selbst für den Ruhestand vor?
Als Beamter habe ich eine stattliche Pension zu erwarten - aus meiner Sicht sogar viel zu stattlich. Ansonsten halte ich es mit der beschriebenen Diversifizierungsregel meines Vaters.

Demnach besitzen Sie auch Aktien. Welche?
Ich habe keinen Schimmer.

Wie bitte?
Ich kaufe Aktien nach Alphabet, etwa alle zwei Monate. Erst A, dann B, dann C. Und wenn ich fertig bin, fange ich wieder von vorn an. Ich mache das seit Studienzeiten und bin schon mehrfach durch.

Weshalb diese Methode?
Im Gegensatz zu vielen Aktienexperten weiß ich, dass ich nichts weiß. Das bedeutet: Ich brauche einen Zufallsmechanismus, um das Unwissen zu bewältigen.

Bei welchem Buchstaben sind Sie gerade?
Keine Ahnung, da müsste ich nachsehen. Früher habe ich den DAX als Basis genommen, mittlerweile verwende ich den MSCI World. Heut­zutage würde ein ETF-Sparplan auf den MSCI World dieselbe Funktion erfüllen, aber den gab es damals nicht. Aus Tradition bleibe ich bei der Alphabet-Methode.

Haben Sie jemals etwas verkauft?
Nur einmal. Da habe ich meine selbst genutzte Immobilie gekauft, und der DAX stand gut.

Vita

Der lächelnde Provokateur


Bernd Raffelhüschen ist einer der profiliertesten Renten­experten. Er arbeitet als Professor für Finanzwissenschaft und Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg. Anfang des Jahrtausends gehörte der Ökonom einer Expertenkommission an, die die "Agenda 2010" des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vorbereitete. Seine jährlich veröffentlichten Berechnungen zur Nachhaltigkeitslücke der Sozialkassen haben großen Einfluss auf die Reformdiskussion in Deutschland. Raffelhüschens Markenzeichen: Er trägt provozierende Thesen stets mit ­einem Lächeln vor. Raffelhüschen hat eine große Affinität zum Norden Europas: Er ist im nordfriesischen Niebüll geboren, spricht fließend Plattdeutsch und Dänisch und ist neben seiner Tätigkeit in Freiburg Volkswirtschaftsprofessor im nor­wegischen Bergen.