Es gibt offiziell 102 Milliardäre in Russland. Zusammen besaßen sie 2020 ein Vermögen von 392,3 Milliarden Dollar, das waren jedoch über 30 Milliarden weniger als im Vorjahr. Zu den Verlierern gehörten im Krisenjahr 2020 jene Oligarchen, die ihr Geld mit Öl, Gas und Eisenerz verdienen. Wladimir Potanins Konzern Nornickel, Weltmarktführer bei der Produktion von Nickel, Palladium und Platin, früher bekannt als Norilsk Nickel, macht hingegen weiterhin blendende Geschäfte.

Potanin, der Sohn eines Funktionärs im sowjetischen Ministerium für Außenhandel, war nach der Privatisierung der Staatsbetriebe unter Präsident Boris Jelzin vom einfachen Beamten zum Oligarchen aufgestiegen. Er war unter Jelzin sogar stellvertretender Ministerpräsident und entwickelte das berüchtigte "Kredite-für-Aktien-Programm." Herzstück seines Imperiums ist heute sein Bergbaukonzern in der sibirischen Nickelhauptstadt Norilsk, an dem er 30 Prozent hält.

Norilsk ist die nördlichste Hauptstadt der Welt, und wohl auch die dreckigste Stadt Russlands. Im Mai 2020 liefen dort über 21 000 Tonnen Diesel aus einem havarierten Kraftwerkstank von Nornickel in zwei Flüsse. Es war die schlimmste Umweltkatastrophe in der russischen Arktis. Selbst Russlands Präsident Wladimir Putin zeigte sich entsetzt. Negative Schlagzeilen machte Potanin auch 2013 mit seiner Scheidung. Er hatte seine Frau Natalija nach 30 Jahren Ehe verlassen - sie kämpft seither in einem erbitterten Rosenkrieg um die Hälfte des Vermögens. Der Aufstieg Potanins unterscheidet sich vom Aufstieg der anderen Oligarchen Russlands. Er musste sich nie als Straßenhändler durchschlagen, wie etwa der Ölmilliardär Roman Abramowitsch. Potanin, 1961 in Moskau geboren, verbrachte seine Kindheit größtenteils außerhalb der Sowjetunion. Sein Vater war zeitweise Vorsitzender der sowjetischen Handelsvertretung in Indonesien und später in Neuseeland.

Die vielen Auslandsaufenthalte prägten Potanin nachhaltig. In den 70er-Jahren lernte er seine spätere Ehefrau Natalija kennen, in einer Zeit, als sich noch niemand vorstellen konnte, dass es in der Sowjetunion einmal eine Marktwirtschaft und Milliardäre geben würde. Wladimir und Natalija gingen in dieselbe Schulklasse, ihre Familien lebten in Moskau nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt. "Er war neugierig, interessant, lustig, ein sehr guter Mensch", beschrieb Natalija Potanina in einem Gespräch mit der Zeitung "Die Welt" ihren Mann. "Er wollte schon immer ein Anführer sein, die Menschen für sich einnehmen." Er war häufig zu Gast bei Natalijas Familie. Und weil ihr Vater ein leidenschaftlicher Schachspieler war, begann Potanin ebenfalls Schach zu spielen, um die Gunst seines zukünftigen Schwiegervaters zu gewinnen.

Nach dem Abitur studierte Potanin an der Wirtschaftsfakultät des Moskauer Instituts für internationale Beziehungen, das als Diplomatenhochschule galt, und trat der Kommunistischen Partei bei. Seine Frau studierte am Institut für Verkehrsingenieure. Sie heirateten noch als Studenten, 1984 kam ihr erstes Kind zur Welt.

Nach Abschluss des Studiums trat Potanin in den Staatsdienst ein, übernahm eine Position im Ministerium für Außenhandel und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. 1989 wurde ihm ein wichtiger Posten im Ausland angeboten. Potanin lehnte ab. Er hatte die Zeichen der neuen Zeit erkannt und beschlossen, auf eine Beamtenkarriere zu verzichten und sein Glück auf eigene Faust zu versuchen. Er nutzte sein Wissen über Marktwirtschaft und Kapitalismus für seine persönliche Vermögensplanung.

Die Stunde der Oligarchen

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gründete er die Kooperative Interros, die sich auf den Import- und Exporthandel spezialisierte. Wie die anderen Oligarchen erkannte Potanin, dass die Zukunft den Banken gehörte. Zusammen mit seinem langjährigen Geschäftspartner und Freund Michail Prochorow gründete er deshalb zu Beginn der 90er-Jahre die Bank Oneksimbank, die das Herzstück von Potanins zukünftigem Firmenimperium werden sollte.

Mitte der 90er-Jahre schlug in Russland die Stunde der Oligarchen. "Ihr wahnwitziger Reichtum gründete sich auf ein ebenso einfaches wie unverschämtes Prinzip: Mithilfe ihrer Banken geben die neuen Reichen dem notleidenden Staat Kredite. Dafür werden sie später Besitzer von maroden Staatsunternehmen mit Perspektive: Nickel und Aluminium, Telekommunikation, Fernsehen und vor allem Öl, größter Reichtum des Landes, gehen in ihren Besitz über", schrieb der "Stern". "Der Handel ist ein gigantischer Diebstahl. Es ist der Raubzug des 20. Jahrhunderts."

Möglich wurde dieser Raubzug durch Präsident Boris Jelzin. Im Vorfeld der Präsidentenwahlen 1996 sah es indes düster aus für ihn. Den Oligarchen der ersten Stunde wurde bewusst, dass bei den bevorstehenden Neuwahlen der kommunistische Kandidat Jelzin ablösen könnte. Jelzin lag bei Wahlumfragen nur noch bei alarmierenden zwei Prozent. Für die Oligarchen standen ihr neu erworbenes Vermögen und ihre Machtstellung auf dem Spiel.

Ende März 1995 präsentierte Potanin, den Jelzin zum Vizepremier ernannt hatte, seinen "Kredite für Aktien"-Plan im Kreml. Ein Konsortium von Banken bot dem Staat einen 1,8-Milliarden-Dollar-Kredit an, der durch Anteile an Staatskonzernen abgesichert werden sollte. Der russische Staat steckte zu diesem Zeitpunkt in großen Finanzschwierigkeiten und erhoffte sich aus der Privatisierung dringend benötigte Finanzmittel.

Potanins Plan sah vor, dass nach dem Ende der einjährigen Kreditlaufzeit der Staat die Anteile wieder zurückkaufen könne. Wenn jedoch der Staat die Kredite nicht ordnungsgemäß begleichen sollte, würden die Anteile endgültig an die Kreditgeber übergehen. Noch vor den kritischen Präsidentschaftswahlen wurden die Filetstücke der maroden russischen Wirtschaft im Rahmen des Potanin-Programms, das Ende August 1995 genehmigt wurde, an Banken und Kapitalgruppen versteigert. So gelangte Potanin für einen Spottpreis in den Besitz des Bergbaukonzerns Nornickel und des Ölunternehmens Sidanko.

Die nordsibirische Stadt Norilsk war 1935 auf dem Reißbrett der Sowjetunion entworfen worden, um die Bodenschätze zu erschließen, und diente zunächst als Gulag, als Arbeitsstraflager. Rund 90 000 Häftlinge arbeiteten bis zu Josef Stalins Tod 1953 in dem Lager. Norilsk ist auch eine der kältesten Städte der Welt: Im langen Winter liegen die Durchschnittstemperaturen bei minus 25 Grad Celsius.

Wilder Kapitalismus

Mitte der 90er-Jahre tobte der wilde russische Kapitalismus. Wer ganz nach oben wollte, musste hart sein und gute Beziehungen zur Politik haben. "Mit seinen Geschäftspartnern ging er sehr rau um, manchmal sogar hinterhältig", erzählte Potanins damalige Ehefrau Natalija im Interview mit der "Welt". "Er sagte, es gebe keinen anderen Weg, Geschäfte zu machen."

Mit dem spektakulären Erfolg kam das große Geld, luxuriöse Urlaube an exotischen Orten wie den Malediven, Jachten und Privatjets. Legendär waren auch die Partys, die der Oligarch feierte. Aber es war, wie Natalija Potanina in einem Interview erklärte, kein sorgenfreies Leben: "Je größer das Vermögen wurde, desto größer wurde auch Wladimir Potanins Angst. Er fürchtete, dass man ihm Norilsk Nickel wegnehmen würde."

Bei einem Abendessen im November 2013 in seiner Luxusresidenz bei Moskau erklärte Potanin seiner Ehefrau, dass er sich von ihr trennen wolle. Die Leibwächter hätten eine Mappe mit Dokumenten gebracht und Potanin habe darauf bestanden, dass sie unterschreibe und auf ihre Ansprüche an dem gemeinsamen Vermögen verzichte. Sie weigerte sich, die Papiere zu unterschreiben. Und sah ihn nie wieder. Seither tobt ein Rosenkrieg um das Milliardenvermögen. peb