Vorwiegend grauhaarige Semester, die sich am Büfett mit Würstchen und Kartoffelsalat drängen - so könnte man etwas despektierlich die typischen Besucher einer Hauptversammlung (HV) beschreiben. Doch 2020 ist bei den jährlichen Aktionärstreffen wegen Covid-19 alles anders. Nachdem einige HVs auf später im Jahr verschoben worden waren, fanden inzwischen die ersten komplett virtuell statt - quasi als Geisterspiel für Aktionäre, nur mit Vorstandschef, wenigen Vorständen, Aufsichtsratschef und Notar in einem Übertragungsstudio, alle mit Sicherheitsabstand voneinander entfernt sitzend und mit Desinfektion des Rednerpults.

Die DAX-Premiere war am 28. April im Livestream bei Bayer zu sehen, rund 5000 Anleger schauten zu: "Einerseits sind wir damit digitaler Pionier, andererseits fehlt uns der direkte Austausch mit Ihnen", brachte Bayers Vorstandsvorsitzender Werner Baumann die Situation auf den Punkt. Die virtuellen HVs der Saison 2020 sind "ein Riesenschritt für die Digitalisierung der Hauptversammlungspraxis", glaubt Klaus Schmidt, Geschäftsführer der Adeus Aktienregister-Service-GmbH. "Die HV als Event verliert natürlich an Bedeutung."

Auskunftsrecht beschränkt

Immerhin dürfen wichtige Beschlüsse etwa zur Dividende virtuell getroffen werden. Das Ende März verabschiedete Covid-19-Gesetz macht es möglich. "Es ist schon erstaunlich, wie schnell der Gesetzgeber auf die Umstände reagiert und eine praktikable Lösung für diese HV-Saison gefunden hat", sagt Ulrich Noack, Rechtsprofessor an der Universität Düsseldorf. Sonst werde oft jahrelang über kleinste Details diskutiert.

Schmidt hält das in diesem Jahr wohl typische Prozedere bei Routine-HVs für "völlig unproblematisch". Er empfiehlt den Gesellschaften aber, "darüber nachzudenken, welche Tagesordnungspunkte sie in dieser Sondersituation auf die Agenda setzen". So mahnt auch Noack die AGs, darauf zu achten, "die ihnen eingeräumten Rechte nicht zu autokratisch und selbstherrlich auszulegen".

Die Gefahr ist gegeben, denn einige Aktionärsrechte werden durch das Gesetz beschnitten. Es "beschränkt das Auskunftsrecht stark. Auf Dauer gehen diese Einschränkungen viel zu weit", sagt Jürgen Kurz von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Man könne damit leben, weil das Gesetz nur für die HV-Saison 2020 greift; sofern die Krise anhält, könnte es notfalls auch 2021 rein virtuelle HVs geben. Für die Aktionärsvereinigungen seien die virtuellen HVs "bitter, ihnen fehlt die Bühne, auf der sie sich präsentieren können", meint Noack.

Klar ist: Für die AGs ist der Ablauf gut vorhersehbar. Nach der Rede des Vorstandsvorsitzenden werden die bis maximal zwei Tage vor der HV vorab eingereichten Aktionärsfragen beantwortet und dann wird abgestimmt. Das geht zügig: "Virtuelle Hauptversammlungen sind in der Regel etwas kürzer, weil die Fragen-und-Antworten-Sessions ohne Redebeiträge von Aktionären thematisch gruppiert und sehr fokussiert ablaufen können", schildert HV-Experte Schmidt die ersten Erfahrungen.

Die HV der Munich Re dauerte 4,5 Stunden, die von Bayer fast sieben Stunden. Aber hier wurde jede Frage einzeln abgehandelt. "Das war schon etwas dröge und führte zu häufigen Wiederholungen. Der Vorstand wollte sich wohl nicht dem Vorwurf aussetzen, eine Frage unter den Tisch fallen gelassen zu haben", glaubt Noack, der die HV verfolgte. Gegenteiliges Bild bei Hochtief. "Das lief zu pauschal ab", findet der Rechtsprofessor und befürwortet einen guten Mittelweg.

Auf Dauer halten Aktionärsschützer die klassische Präsenz-HV weiterhin für wichtig, "gerade weil sie dem einen oder anderen Vorstand lästig ist, da er dort mit Emotionen und Stimmungen von Anlegern konfrontiert wird. Die Präsenz-HV ist schließlich der einzige Ort, an dem die Vorstände gezwungen sind, sich direkt mit ihren Aktionären auseinanderzusetzen", so Kurz. Noack schwebt für die Zukunft etwas anderes vor: ein Hybridmodell aus Präsenz- und virtueller HV.