Unser Leben wird an vielerlei Stellen durch das Deutsche Institut für Normung (DIN) bestimmt. Einer der bekanntesten Bereiche sind Papierformate, zum Beispiel die DIN EN ISO 216. Sie regelt, dass ein DIN-A4-Blatt exakt die Maße 210 Millimeter mal 297 Millimeter haben muss - und macht es dadurch möglich, dass es international in alle Ordner und Drucker passt. Insgesamt, erklärt ein DIN-Sprecher, gebe es hierzulande rund 34 000 Normen. Die meisten gelten europa- oder sogar weltweit.

Weniger bekannt ist, dass das DIN nicht nur technische Prozesse und Produkte regelt, sondern auch Dienstleistungen. Es gibt sogar einen eigenen Ausschuss, dem jahrelang etwa touristische, gesundheitliche und soziale Normen zugeordnet waren. Dann kamen Finanzen dazu. Ergebnis: Seit Januar 2019 gilt die erste Norm für Finanzdienstleistungen - die DIN 77 230, in der es um die Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte geht.

Ihre Vorgeschichte reicht weit zurück: bis zur Gründung des Unternehmens Formaxx im Jahr 2007, in dem sich Finanzberater verschiedener Vertriebe zusammenfanden, die eine gemeinsame Firma aufbauten. Dabei wurde zum internen Problem, was Verbrauchern schon lange zuvor das Leben schwer gemacht hatte: Finanzberatung hing - und hängt auch heute noch - oft vom Verkaufsansatz des Vermittlers ab. Oder anders ausgedrückt: Geht ein Kunde wegen seiner Altersabsicherung zu einer Bank, kommt bei der Analyse meist heraus, dass er eine Sparanlage wählen soll. Sitzt ihm ein Versicherungsmakler gegenüber, ist im Zweifel eine Lebensversicherung das Mittel der Wahl.

"Dabei", findet Klaus Möller, "leuchtet es ja jedem ein, dass es nach einer umfassenden Betrachtung der finanziellen Situation für jeden Kunden eigentlich immer nur ein Ergebnis geben kann." Und genau dieses soll die Norm 77 230 liefern. Möller, ehemaliger Topmanager beim Finanzvertrieb MLP, ist heute Vorstand bei der Defino Institut für Finanznorm AG, die aus einer Formaxx-Ausgründung entstanden ist. Defino hatte zunächst intern mit der Entwicklung standardisierter Prozesse begonnen und diese dann gemeinsam mit dem DIN in eine offizielle Form, sprich: Norm, gegossen. Heute hat es sich in erster Linie die Zertifizierung von Personen und Unternehmen zur Aufgabe gemacht, die die Norm umsetzen, und beschäftigt sich - weiterhin in enger Zusammenarbeit mit dem DIN - außerdem mit der Entwicklung und Umsetzung weiterer Finanznormen. Die nächste wird voraussichtlich im Herbst an den Start gehen: die "Basis-Finanz- und Risikoanalyse für Selbstständige sowie kleinere und mittlere Unternehmen", die unter DIN 77 235 laufen soll.

Wie allgemein bei der Entwicklung von Normen arbeiten die Ausschüsse auch bei Dienstleistungsprozessen nicht im stillen Kämmerlein, sondern unter Beteiligung der ganzen Bandbreite relevanter Branchen und Experten. Das müsse schon deswegen so sein, erläutert Möller, weil Normen zwar keine Gesetze seien, aber, so der Fachbegriff, gesetzesergänzenden Charakter hätten. Was bedeutet: Sie müssen in einem mehrjährigen und mehrstufigen Verfahren so ausgearbeitet werden, dass ein Gericht bei Streitereien entscheiden kann, ob eine Beratung normgerecht erfolgt ist oder nicht.

Verbraucherschützer uneins

Auch Verbraucherschützer, so betonen die Initiatoren, saßen beim Entstehungsprozess der DIN 77 230 mit am Tisch. Und tatsächlich äußerten sich Experten wie Stiftung Warentest oder Hermann-Josef Tenhagen, Chefredakteur des gemeinnützigen Verbraucherportals Finanztip.de, in der Vergangenheit durchaus positiv. Gleichzeitig gab und gibt es aber bis heute vor allem von den Verbraucherzentralen heftige Kritik.

Gleich mehrere Aspekte stießen den dortigen Beratern auf, sagt Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Erstens erwecke das DIN-Zertifikat den Eindruck, mit wissenschaftlich fundierten Standards zu arbeiten. "Das ist aber nirgendwo belegt." Zweitens gehe es bei der Norm nur um die sogenannte Finanzanalyse, also die Untersuchung der Istsituation. Eine gute Beratung, stellt Nauhauser klar, habe aber drei Phasen: Exploration, Information und Ergebnis. Die DIN regle nur die erste Phase. "Am Ende bleibt es auch zertifizierten Beratern selbst überlassen, welche Produkte sie dann anhand des Ergebnisses verkaufen."

Und drittens werde selbst bei der Analyse nicht der individuelle Bedarf ermittelt, "sondern eine Priorisierung vorgegeben". Laut Nauhauser gibt es überhaupt keinen objektiven Bedarf, sondern lediglich einen individuellen. Letztlich sei die Norm daher nur ein Versuch, schlussfolgert er, "den Vertrauensverlust, den die Finanzbranche in den letzten Jahren erlitten hat, durch ein Siegel mit dem guten Ruf eines DIN-Zertifikats zu kaschieren". Den Beratern werde damit ein Marketinginstrument an die Hand gegeben, das Problem schlechter Beratung für den Kunden? sei damit aber nicht gelöst.

Mitinitiator Möller folgt dem Kritiker dabei in einem Punkt - zumindest zum Teil. Natürlich, räumt er ein, sei es nicht von der Hand zu weisen, dass auch mit einer guten Analyse im Anschluss noch Fehler gemacht werden können. "Aber am Ende steht eine eindeutige Prioritätenliste, die auch dem Kunden vorliegt und es Verkäufern erheblich schwerer macht, das falsche Produkt zu verkaufen." Doch auch bei Defino denkt man inzwischen weiter und beschäftigt sich zusätzlich zur Analysenorm mit dem nächsten Schritt, zumindest für den Anlagebereich. Um Suggestion und Manipulation von Kunden bezüglich ihrer Zuordnung zu bestimmten Anlegertypen zu verhindern, soll auch hier eine allgemein gültige Systematik entwickelt werden. In etwa einem Jahr könnte es so weit sein, kalkuliert Möller.

Überzeugungsarbeit nötig

Die Großen zieren sich. Zuvor jedoch gilt es, erst einmal auch in der eigenen Branche jede Menge Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn nicht nur bei den Verbraucherzentralen steht man der Finanz-DIN skeptisch gegenüber. Gerade einmal knapp 2000 Berater - von geschätzt etwa 200 000 - haben sich bislang von Defino zertifizieren lassen. Die meisten großen Player wie die Vema (eine Genossenschaft von Versicherungsmaklern), der Finanzvertrieb DVAG und auch Möllers ehemaliger Arbeitgeber MLP tun sich genauso schwer wie viele selbstständige Berater.

Die Gründe dafür sind echt unterschiedlich. Bei großen Gesellschaften oder Verbänden gibt es oft bereits eigene Prozesse, die "über die DIN-Norm hinausgehen", wie es beim Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken heißt. Auch bei der DVAG ist man der Meinung, dass der eigene ganzheitliche Analyseprozess, der "fortlaufend angepasst" werde, vollkommen ausreicht. Handlungsbedarf, "das Verfahren DIN 77 230 in das Geschäftsmodell der Allfinanzberatung aufzunehmen", sieht man bei der DVAG darum nicht.

Andererseits wollen viele Anbieter, die sich auf bestimmte Produkte spezialisiert haben, diesen Ansatz auch gar nicht aufgeben. Zumal die Nutzung der DIN für sie eine massive Umstellung des Geschäftsmodells bedeuten würde. Allerdings, so stellt Möller klar, schreibe die Norm auch keineswegs vor, dass es in Zukunft nur ganzheitliche Analysen geben darf, sondern nur, wie sie aussehen soll, wenn eine solche angeraten ist oder gewünscht wird. Was gerade kleinere Agenturen oder selbstständige Berater zögern lässt, ist der doch nicht unerhebliche Aufwand, den eine Umstellung auf DIN-Beratung bedeutet. Denn es geht nicht nur um entsprechende Schulungen, die durch zugelassene Weiterbildner durchgeführt werden müssen, und daran anschließend die eigene Zertifizierung. Zunächst einmal muss eine entsprechende Software angeschafft werden. Händisch auf einem Blatt Papier, wie auch heute noch viele Berater arbeiten, lässt sich die DIN nicht durchführen.

Dass aber Zettelwirtschaft und Bauchgefühl wegfallen, ist aus Sicht der Befürworter ja gerade der Garant dafür, dass am Ende ein qualitativ hochwertiges Ergebnis herauskommt. Mittelfristig, davon ist auch Stephan Hinzen, Wirtschafts- und Finanzberater in Münster, überzeugt, werde sich die DIN als Standard durchsetzen und so gerade bei den freien Beratern auch die Spreu vom Weizen trennen.

Auf die Expertise kommt es an

Hinzen, der vor allem Zahnärzte und Ärzte berät und das Instrument von Anfang an nutzte, bestreitet nicht, dass sich durch die DIN-Beratung mitunter auch Zusatzgeschäft generieren lässt. Die Angst, dass das Siegel allein als Marketinginstrument missbraucht werden könnte, wie Verbraucherschützer Nauhauser befürchtet, teilt er aber überhaupt nicht. "Um sich am Ende auf dem Markt behaupten zu können, kommt es bei aller Versachlichung auch weiterhin auf die gute Expertise des Beraters an."

Bislang, glaubt Verfechter Möller, waren es vor allem zwei Aspekte, die das inzwischen steigende Interesse am Defino-Zertifikat anfangs ins Stocken brachten: zum einen die Corona-Krise, zum anderen die fehlende Software. Mittlerweile sind aber acht Anbieter mit Produkten am Markt. "Und auch mit Corona wird es ja irgendwann vorbei sein."

Dann entscheidet der Verbraucher. Man darf gespannt sein.

Was die Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte regelt:


• Welche Informationen von Verbrauchern zu erfragen sind, damit wirklich ein Blick auf ihre gesamte Finanz- und sonstige Lebenssituation gewährleistet ist.

• Dass die Darstellung des Analyseergebnisses ganzheitlich zu erfolgen hat.

• Wie aus diesen Informationen die Identifikation der individuell relevanten Finanzthemen zu erfolgen hat.

• In welcher Rangfolge diese Finanz themen zueinander stehen.

• Auf welchen Wegen und mit welchen Rahmenparametern die individuellen quantitativen Orientierungswerte zu errechnen sind, die den Finanzthemen zugeordnet werden.