Otmar Issing

war Chefökonom und Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank (EZB) und ist seit 2006 Präsident des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität. Er gilt als Experte für Geldtheorie und Geldpolitik.

Nach Jahren niedriger Inflation sind die Preise in den letzten Monaten fast überall gestiegen. Am ausgeprägtesten war dies, überwiegend wegen Lieferengpässen als Folge der Lockdowns, bei Energie und Rohstoffen. Doch während diese Hindernisse weitgehend als vorübergehend betrachtet werden, was nahelegt, dass dieser Ausschlag nach oben bald vorbei sein wird, signalisieren weitere Faktoren, dass das nicht passieren wird - allen voran die Zunahme der Geldmenge.

Die meisten monetären Aggregate sind in atemberaubendem Tempo gestiegen, was die Notenbanken und viele Ökonomen nicht zu beunruhigen scheint. Angesichts der Tatsache, dass das Geld in den führenden Modellen zur Erklärung der Inflation keine Rolle mehr spielt, wird das berühmte Diktum des Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman, die "Inflation [sei] immer und überall ein geldpolitisches Phänomen", heute kaum noch zitiert. Die "Geldmengentheorie" postuliert, dass die Kausalität der Inflation vom Geld zu den Preisen hin verläuft. Tatsächlich scheinen empirische Belege Friedmans Hypothese in Bezug auf eine moderate Inflation weitgehend untergraben zu haben. Doch es bleibt eine Tatsache, dass Nominallöhne und Preise für Waren und Dienstleistungen ohne entsprechende Ausweitung der Geldmenge nicht immer weiter steigen können. Auch kann ein starkes Geldmengenwachstum im Laufe der Zeit die Risiken bei der Entwicklung der Vermögenspreise und der Finanzstabilität steigern.

Nach über einem Jahrzehnt, in dem unter anderem die Globalisierung und der demografische Wandel einen Abwärtsdruck auf die Preise ausübten, könnte die Welt nun am Rande eines breiteren wirtschaftlichen "Regimewechsels" stehen. Steigende Gesundheitskosten in alternden Gesellschaften, das verringerte Tempo der Globalisierung, Verwerfungen innerhalb der Lieferketten und Forderungen nach Rückholung der Produktion in kostenintensivere Regionen sind neue Quellen eines exogenen Preisdrucks. Unter diesen Umständen könnten die Löhne in die Höhe gedrückt werden. In einer Zeit, in der sich die Notenbanken fast nach etwas höherer Inflation sehnen und den Anstieg der Geldmenge ignorieren, dürfte solch eine Änderung im realen Sektor auf eine Verschiebung von einem deflationären zu einem inflationären Umfeld hindeuten. Sollten wir uns auf eine Rückkehr zur Stagflation einstellen? Das ist schwer zu sagen, weil wir derzeit ein hohes Maß jener Art nicht quantifizierbarer Unsicherheit erleben, von der der Ökonom Frank Knight argumentierte, dass man sie in herkömmliche Prognosen unmöglich integrieren könne. Zusätzlich zu den dramatischen strukturellen Änderungen der letzten Jahre innerhalb der Weltwirtschaft könnte die Pandemie Folgen haben, die derzeit noch nicht absehbar sind.

Noch schlimmer ist, dass sich die Notenbanken weitgehend auf Modelle stützen, die ihre Aussagekraft schon vor Jahren eingebüßt haben. Die wichtigsten, von den Notenbanken genutzten allgemeinen Gleichgewichtsmodelle lassen die große Ungleichheit zwischen den privaten Haushalten beim Vermögen, bestehenden langfristigen Schuldenpositionen, unversicherten Risiken und der Erwartungsbildung weitgehend unberücksichtigt. Insofern sind sie nicht geeignet, die komplexen Auswirkungen abzubilden, die systematische Maßnahmen auf Vermögensverteilung und Ungleichheit und damit auf die Gesamtnachfrage haben. So kann man nur raten, ob das starke Geldmengenwachstum Vorsorgeansparungen infolge dieser Ungleichheit widerspiegelt oder eine inflationäre fiskal- und geldpolitische Erschütterung. Oder beides? Dies ist besonders problematisch in einer Welt, in der die Notenbanken die Geldbasis enorm ausweiten, indem sie einer kleinen Gruppe relativ vermögender und gut informierter Anleger zu hohen Preisen Vermögenswerte abkaufen.

Die Schlüsselrolle bei Vorhersagen über die Inflation spielen die Erwartungen, und diese scheinen fest auf niedrigem Niveau verankert zu sein. Da die Inflationsangst von den meisten Radarschirmen verschwunden ist, ist es vielleicht verständlich, dass die jüngsten Preiserhöhungen als vorübergehend betrachtet werden. Doch weil die Geldpolitik tendenziell mit zeitlich unterschiedlicher Verzögerung wirksam wird, ist es gefährlich, zu warten, bis die höhere Inflation Wurzeln geschlagen hat, bevor man reagiert. In einem Umfeld extremer Unsicherheit ist es riskant, sich derart stark auf die längerfristige Stabilität der Inflationserwartungen zu verlassen. In Zeiten eines Regimewechsels ist die Unsicherheit derart hoch, dass es schlicht unmöglich ist, rationale Erwartungen zu bilden.

Hohes Schuldenniveau

Ein weiteres unkalkulierbares Risiko ist das hohe Niveau privater und öffentlicher Schulden. Die Tragbarkeit der öffentlichen Finanzen in hochverschuldeten Ländern ruht auf wackeligem Boden und ist potenziellen wirtschaftlichen oder geopolitischen Erschütterungen ausgesetzt. Ich sage hier nicht die unweigerliche Rückkehr einer hohen Inflation voraus. Aber ich bin besorgt über das starke Wachstum der Geldmenge und seine Determinanten, angefangen bei den massiven Ankäufen von Staatsanleihen durch die Notenbanken. Die Notenbanken scheinen mir, was dieses Risiko angeht, viel zu optimistisch. Sie ignorieren zudem die erhöhte Unsicherheit des gegenwärtigen Umfeldes, nicht zuletzt, indem sie eine relativ lange Fortsetzung niedriger Leitzinsen und hoher Wertpapierkäufe in Aussicht stellen.

Im Falle der Eurozone sagen einige Beobachter keine Inflation, sondern eine Art Japanisierung voraus: niedrige Inflation und Nominalzinsen, hohe öffentliche Defizite, eine zunehmende Fiskal- und Finanzdominanz. Angesichts der Zunahme der Vermögensungleichheit und der Wahrscheinlichkeit, dass Finanzanleger irgendwann das Vertrauen in die Tragbarkeit der öffentlichen Finanzen verlieren werden, ist unklar, ob derartige Bedingungen politisch aufrechtzuerhalten wären. Weder ein finanzieller Zusammenbruch noch ein steiler Anstieg der Inflation lassen sich ausschließen.