Einmal im Monat organisiert die Münchner Wohnungsbaugenossenschaft Wagnis eG eine Informationsveranstaltung. Doch wer wissen will, was genossenschaftliches Wohnen heute in der bayerischen Landeshauptstadt bedeutet, muss schnell sein. Denn schon Wochen vorher ist keiner der 100 Plätze mehr frei - trotz Videokonferenzen anstelle von Präsenzveranstaltungen.

Verwunderlich ist das nicht. Das Thema Wohnen wird für viele Menschen in den Städten existenziell. Die Kauf- und Mietpreise steigen kontinuierlich - und sind für viele unerschwinglich. Angesichts dieser Situation, erläutert Ingeborg Esser, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GDW), rücken vermehrt Genossenschaften in den Blick. Ein Wohnkonzept, das es hierzulande zwar seit über 150 Jahren gibt, das sich aber lange im Tiefschlaf befand.

Gegründet Mitte des 19. Jahrhunderts, um in den Städten bezahlbaren Wohnraum für die Arbeiter zu schaffen, hatten sich im Laufe der Jahrzehnte aus kleinen Initiativen große Gesellschaften entwickelt, die schließlich nur noch ihren Bestand verwalteten. Bei der Erschaffung neuen Wohnraums aber spielten sie keine Rolle mehr. Gut für die diejenigen, die das Glück haben, Mitglied zu sein oder werden zu können. Denn wer einmal in einer Genossenschaftswohnung wohnt, hat ein lebenslanges Wohnrecht und profitiert selbst im teuren München noch heute mitunter von Kaltmieten, die bei 5,50 Euro pro Quadratmeter liegen.

Pech aber für alle anderen. Die meisten Bestandsgenossenschaften nehmen keine neuen Mitglieder mehr auf - oder die Wartelisten sind endlos lang. Hier kommen nun Anbieter wie die Wagnis eG ins Spiel. Etwa seit der Jahrtausendwende, beobachten Experten, werden plötzlich wieder Baugenossenschaften neu gegründet - und vor allem in den letzten fünf bis sieben Jahren nimmt diese Entwicklung Fahrt auf. Ihr Ansatz: Wie in den Anfängen gemeinsam bauen und dadurch gleichzeitig bezahlbaren und vor allem sicheren Wohnraum schaffen. Und: Eigenbedarfskündigungen kennen Genossen nicht.

Als Wagnis im Jahr 2000 mit 21 Gründungsmitgliedern antrat, mussten sie "viele Hürden bei den Banken, aber auch bei der Stadt überwinden", bevor sie ihr erstes Projekt in Angriff nehmen konnten, erzählt Kommunikationsfrau Christine Grosse. Inzwischen ist das achte in der Umsetzung. Wagnis hat 3200 Mitglieder und 500 Wohnungen im Bestand. Zudem haben sich allein in München rund 20 weitere der sogenannten "neuen" Genossenschaften gegründet, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Einige wie Wagnis, Wogeno oder Frauenwohnen sind längst etabliert, andere wie die Kooperative Großstadt oder Progeno haben gerade erste Objekte bezogen und kümmern sich bereits um die nächsten. Etwa 12 000 Genossenschaftswohnungen wurden in der Stadt in den vergangenen Jahren fertiggestellt oder befinden sich im Bau oder in Planung.

München gibt Genossenquote vor

München ist damit neben Hamburg, Frankfurt und Tübingen zu einem Vorreiter geworden - getrieben auch durch die Erkenntnis, dass die neuen Genossenschaften einen großen Teil dazu beitragen können, die Wohnungsnot der Stadt zu lindern. Sie erwirtschaften keinen Gewinn, treiben den Preisanstieg also nicht weiter an. Eine Einsicht, die mittlerweile auch Einzug in die Wahlprogramme fast aller Parteien gefunden hat.

Schon seit Jahren werden in Bayerns Kapitale 20 bis 40 Prozent der städtischen Neubaugebiete an Genossenschaften vergeben. Nicht nur die Grünen, sondern auch SPD, Linke und CSU setzen sich dafür ein, die Bedingungen zu verbessern und die Quote noch zu erhöhen. 2014 initiierte die Stadt für Interessenten die Beratungsstelle Mitbauzentrale. Zweimal pro Woche, berichtet Projektleiterin Natalie Schaller, hören sich seitdem zehn bis 50 Interessierte an, welche Möglichkeiten gemeinschaftsorientiertes Wohnen bietet.

Nahezu tägliche Anfragen kennt auch Markus Sowa, Vorstand und Mitbegründer der Kooperative Großstadt, und bestätigt: "Das Interesse ist ungebrochen." Das hat auch damit zu tun, dass die neuen Genossenschaften inzwischen Aufgaben übernehmen, die sie anfangs gar nicht auf dem Schirm hatten. Die meisten neuen Gründerinitiativen, erzählt Sowa, seien Idealisten gewesen. Die einen träumten davon, gemeinsam Räume und Interessen zu teilen, die anderen davon, ökologische oder gestalterische Ideen umzusetzen. So wie die Kooperative Großstadt, die aus dem Wunsch einer Architektengruppe entstand, dem "Einheitsbrei im Wohnungsbau" lebendige und ökologisch ambitionierte Quartiere entgegenzusetzen. Inzwischen steht auch bei den Neuen das Schaffen von Wohnraum im Vordergrund.

Was allerdings vielen Interessenten oft nicht klar ist: Die Rahmenbedingungen der neuen Genossenschaften unterscheiden sich deutlich von denen der alten. Das betrifft zunächst den finanziellen Einsatz. Da die neuen Genossenschaften noch über kein eigenes Kapital verfügen, müssen die Bewohner es aufbringen. Konkret: Neben den üblichen Anteilen, die fällig werden, wenn man Mitglied wird, fallen bei Zuteilung einer Wohnung weitere Pflichtanteile an. In alten Genossenschaften sind dies in der Regel fünf bis zehn. Bei den neuen dagegen wird die Anzahl der Pflichtanteile nach der Quadratmeterzahl berechnet. Für eine Familie, die 100 Quadratmeter braucht, kann die Einstiegssumme also auch sechsstellig werden. Hinzu kommt: Wer sich an einer neuen Genossenschaft beteiligt, muss nicht nur eine Menge Geld aufbringen. Er muss dies in der Regel darüber hinaus zu einem Zeitpunkt tun, an dem es noch nicht einmal eine Baugrube, ja mitunter noch nicht einmal eine Baugenehmigung gibt.

Etwa vier Jahre vergehen laut Sowa vom Planungsbeginn bis zum Bezug. Wer also nur schnell eine günstige Wohnung sucht, darin sind sich Sowa und Grosse einig, für den sind die neuen Genossenschaften allenfalls in Ausnahmefällen eine Alternative. Denn damit man kurzfristig einsteigen kann, müssen andere Genossen abspringen oder Wohnungen aus dem noch geringen Bestand frei werden. Dazu braucht es viel Glück, denn die Fluktuation ist "sehr gering", betont Grosse.

Mitmachen ist erwünscht

Und noch etwas unterscheidet die neuen von den Bestandsgenossenschaften. Während Letztere ihre Mieter längst so anonym verwalten wie andere Wohnungsbaugesellschaften, spielt der Gedanke des Miteinanders bei den Neuen durchaus eine Rolle. "Wir füllen die traditionellen Genossenschaftsthemen Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung mit neuem Leben", heißt es dazu bei Wagnis. Mitmachen ist je nach Initiative zumindest erwünscht, mitunter auch gefordert. Dabei von Vorteil: Intensität und Richtung des Engagements unterscheiden sich. Bevor man sich entscheidet, Mitglied zu werden, gilt es also, die Unterschiede der Neuen genau zu prüfen.

"Immer zuerst umfassend informieren", lautet auch der Ratschlag von Martin Larisch, Teamleiter bei der Verbraucherzentrale Bayern. Und dazu gehört, sich nicht nur mit dem theoretischen Überbau auseinanderzusetzen, sondern auch mit den handelnden Personen und der Satzung. Larisch: "Wer Mitglied einer Genossenschaft wird, ist nicht nur Mieter, sondern gleichzeitig auch Miteigentümer." Das umfasst nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Außerdem, so der Experte weiter, sei es wichtig, die eigene Situation genau zu analysieren.

Ähnlich wie beim Kauf einer Einzelimmobilie ist das Geld für die Pflichtanteile für die Dauer des Wohnens gebunden. Vor einem solchen Investment rät Larisch zu einer gründlichen Finanzplanung, die sicherstellt, dass man im Zweifel auch im Rentenalter wohnen bleiben kann und das Geld nicht benötigt.

Die allermeisten arbeiten seriös

Auch besteht das Risiko, das eingelegte Kapital insgesamt oder teilweise zu verlieren - etwa wenn eine Genossenschaft schlecht wirtschaftet oder sogar Insolvenz anmelden muss. Eine große Gefahr sehen Experten hierin allerdings nicht. "Die überwiegende Mehrheit der alten wie der neuen Genossenschaften arbeitet sehr seriös", stellt GDW-Geschäftsführerin Esser klar. In der Vergangenheit gab es zwar immer mal wieder Berichte über betrügerische Machenschaften, und die Stiftung Warentest führt auch ein paar Wohnungsbaugenossenschaften auf ihrer Warnliste zu Geldanlageprodukten. Hier handelt es sich aber um dubiose Geschäftemacher, die den guten Ruf der Genossenschaften ausnutzen, betont Larisch.

Insgesamt sehen viele Experten großes Potenzial bei den neuen Genossenschaften und freuen sich darüber, dass ihr Engagement inzwischen sogar bei einigen alten die Baulust wieder entfacht hat. Einziger Wermutstropfen: Nicht nur die Pflichtanteile, auch die Mieten liegen bei den neuen Genossenschaften deutlich über denen der alten. Etwa neun bis 13 Euro pro Quadratmeter werden sie beispielsweise im künftigen Münchner Stadtteil Freiham-Nord betragen, wo gerade etwa 1000 neue Genossenschaftswohnungen entstehen. Angesichts von Neubaumieten, die in manch anderen Vierteln an die 30 Euro pro Quadratmeter reichen, ist das jedoch ein Klacks.

 


Wohnungsbaugenossenschaften als Geldanlage?

Wie alle Genossenschaften arbeiten auch die Wohnungsbaugenossenschaften nicht gewinnorientiert. Die Pflichtanteile der Mitglieder werden daher nicht verzinst. Bei den meisten Genossenschaften besteht aber die Möglichkeit, Fördermitglied zu werden oder Geld über die Pflichtanteile hinaus einzulegen. Dieses Geld wird dann verzinst. Darüber hinaus bieten einige Wohnungsgenossenschaften ihren Mitgliedern auch Festgeld oder Sparpläne an. In allen Fällen leihen sich seriöse Genossenschaften Geld bei ihren Mitgliedern, das sie dann in Neubauprojekte oder den Bestand investieren.

Doch Vorsicht: Unter dem Deckmäntelchen des guten Rufs, den Genossenschaften normalerweise haben, agieren auch unseriöse Player auf dem Markt. Diese werben nicht in erster Linie Bewohner, sondern versuchen Anleger zu ködern, denen sie hohe Zinsen versprechen. Hier gab es in der Vergangenheit Insolvenzen, die zum Totalverlust der Einlagen führten.

Misstrauisch sollten Sie werden, wenn zum Beispiel

• aggressiv geworben wird (Flyereinwürfe, Telefonanrufe et cetera),

• hohe Renditeversprechen gemacht werden,

• es im Verhältnis zur Mitgliederzahl viel zu wenige Wohnungen gibt,

• das Geld nicht in Wohnungen, sondern beispielsweise in Hotels oder Einkaufszentren investiert wird,

• investierende Mitglieder einer Genossenschaft keine Stimmrechte haben,

• die Führungsriege mit Geschäftspartnern verbunden ist.

Grundsätzlich empfehlen Verbraucherschützer, sich nur dann an Genossenschaften zu beteiligen, wenn man den Förderzweck unterstützt. Als reine Geldanlage eignen sie sich nicht.

Neue Genossenschaften: Eine Sache des Abwägens



Pro
Neubaumieten liegen deutlich unter Vergleichsniveau und steigen nicht mehr oder nur wenig. Sogar Absenkungen sind möglich
Sicheres lebenslanges Wohnrecht
Günstige Finanzierungsmöglichkeiten der Pflichtanteile über die Förderbank KfW
Verzinsung von Anlagen, die über die Pflichtanteile hinausgehen
Mitbestimmungsrechte und Mitgestaltungsmöglichkeiten, die Mieterrechte weit übertreffen

Contra
Das einzulegende Kapital ist über die gesamte Dauer der Wohnzeit gebunden.
Werden die Pflichtanteile gekündigt, wird bestenfalls der eingezahlte Betrag zurückerstattet. Verluste können den Wert der Anlage mindern. Manche Genossenschaften verlangen zudem Eintrittsgeld, das nicht erstattet wird.
Keine Verzinsung der Pflichtanteile
Nicht 100 Prozent insolvenzsicher