Nach Twitter (7500 Stellen)  und Meta (11000 Stellen) plant laut Berichten von US-Medien mit Amazon ein weiterer Tech-Gigant Massenentlassungen. Im Raum steht ein Abbau von 10000 Arbeitsplätzen.  Ob es auch Stellenstreichungen in Deutschland geben wird, ist noch unklar. Finanzberater Gunnar Marschke erklärt, worauf Betroffene bei Abfindungsangeboten achten sollten Von Stefan Rullkötter

Boerse-online.de: Wie ist die Verhandlungsposition für Arbeitnehmer, wenn Unternehmen einen Stellenabbau in großem Stil ankündigen?
Gunnar Marschke:  Sie ist  stärker, als  viele von ihnen glauben. Denn zur erfolgreichen Durchsetzung von Personalabbauprogrammen über Abfindungen brauchen Unternehmen die Akzeptanz der Belegschaft.

Hierzulande hat auch der Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler den Abbau von 1300 Stellen bis 2026 angekündigt. Was ist der Hintergrund für derartige Massenentlassungen?
Durch die fortschreitende Digitalisierung von Arbeitsprozessen oder auch durch anhaltende Krisenstimmung in der deutschen Wirtschaft sind Unternehmen bemüht, Personal abzubauen und Restrukturierungen ihrer Belegschaft vorzunehmen.

Welche Beschäftigten stehen dabei  im im Fokus?
Oft geraten gerade die älteren und erfahrenen Mitarbeitenden ins Visier von Personalabbau-Programmen, etwa mit Angeboten für Altersteilzeit  oder Abfindungen. Der Grund ist offensichtlich: Ältere Mitarbeitende haben häufig die höchsten Gehälter, die Leistungsfähigkeit und die Veränderungsbereitschaft dieser Kollegen in sich wandelnden Märkten schätzen Unternehmen eher als gering ein. Und genau bei dieser Personengruppe legen Personalberatungsfirmen oder Unternehmenssanierer bei ihren Einsparprogrammen als erstes den Rotstift an.

Wer ist primär von Stellenstreichungen betroffen und somit Hauptzielgruppe für Abfindungsangebote?
Es trifft Fach- und Führungskräfte etwa ab Mitte 50. Auf den ersten Blick sehen die meisten Angebote zum vorzeitigen Austritt aus dem Unternehmen recht attraktiv aus, so dass sich bei den Mitarbeitenden durchaus eine positive innere Einstellung erzeugen lässt, das Angebot anzunehmen. Doch die sollte einer genauen Überprüfung unterzogen werden.

Warum ist hier ein penibler Check ratsam?
Die Entscheidung ist für die meisten von enormer Tragweite, immerhin bestimmt sie die finanzielle Situation des oder der Einzelnen für die nächsten 20 oder 30 Jahre – ohne Arbeitseinkommen. Aus Arbeitgebersicht ist entscheidend, wie hoch die Annahmequote in der Belegschaft am Ende wirklich ist, wenn die Mitarbeitenden das Ausstiegsangebot einem zweiten, kritischeren Blick unterziehen. Deshalb bieten Personalberatungsgesellschaften häufig Informationsveranstaltungen an, in denen sie die unterschiedlichen Programme näher erklären.

Welche Berechnungsformeln  sind für ein Abfindungsamgebot üblich?
In Unternehmen wird die Abfindungssumme für eine größere Zielgruppe häufig nach einer Formel festgelegt. Üblich ist zum Beispiel die Betriebszugehörigkeit in Jahren multipliziert mit einem Faktor des letzten Monatsgehaltes. Es gibt aber auch komplexere Formeln, die beispielsweise die Abfindung nach der Restzeit in Monaten bis zum frühestmöglichen Renteneintritt multipliziert mit einem Gehaltsfaktor berechnen und zusätzlich Abfindungsunter- und Obergrenzen beinhalten.

Was ist dann der nächste Schritt?
Danach erfolgen auf Basis der persönlichen Renteninformationen Einzelgespräche mit den betroffenen Mitarbeitenden. Darin zeigt der Consultant beispielsweise für eine Abfindungsoption sieben wichtige Punkte auf: 
1.     Abfindungshöhe (detaillierte Berechnung der Modalitäten)
2.     Netto – Abfindung nach 5-tel Regelung
3.     Rentenanwartschaft (gesetzliche Rente) bei Rentenalter 63/67 (inkl. Abschlägen)
4.     Aufklärung über Ausgleichsbeträge in Rentenkasse (freiwilliger Beitrag)
5.     Aufklärung Fristen und Anspruch hinsichtlich Arbeitslosengeld 1-Bezug
6.     Aufklärung über Hinzuverdienstgrenzen in Arbeitslosigkeit und Rente mit 63
7.     Ergebnisse zusammengefasst in einem “Finanzplan”

Was ist hier zu beachten?
Ob der oder die Mitarbeitende dieses Paket aber akzeptiert, hängt wesentlich von der Präsentation ab. Davon, dass am Ende keine Fragen offen bleiben. Davon, dass der Nutzen für eine vorzeitige Vertragsauflösung klar überwiegt. Hier trennt sich unter den Personalberatern oft die Spreu vom Weizen.

Welche Elemente sind aus Sicht der Belegschaft dabei besonders wichtig?

Hier sind zunächst  die folgenden vier Punkte zu beachten:

1. Auswirkungen auf die gesetzliche Rente durch die Abfindung inklusive das Aufzeigen von Nachzahlungsoptionen zum Ausgleich (freiwillige Beiträge) Die Möglichkeit freiwilliger Beiträge in die Rentenkasse ist gegeben. Lohnt das im Einzelfall?  Kalkulation von zukünftigen Rentenanpassungen seitens des Gesetzgebers schwierig. Infaltionsausgleich gegeben? Steuern und Krankenversicherungsbeiträge  auf Rentenzahlungen richtig berücksichtigt? - Nachzahlungen in die Rentenkasse sind bei Tod der Rentenberechtigten (Beispiel Ehepaar) dann für Erben verloren

2. Aufklärung über Krankenversicherungspflicht außerhalb eines Arbeitsverhältnisses  - wichtig ist hier die ganz persönliche Situation. Ist die Chance auf eine neue Arbeitsstelle realistisch oder überhaupt geplant? Wenn der Ehe - Partner noch berufstätig ist, sollte bei gesetzlicher Krankenversicherung  Familienversicherung genutzt werden. Ansonsten muss sich der Ausscheidende und Partner/in selbst neu krankenversichern. Mindestbeitrag ca. 200 € p.M. ACHTUNG: Kapitalerträge und Mieterträge sind in diesem Fall auf der Einkommensseite auch zu berücksichtigen und ggf. Zu verbeitragen!

3. Nützliche Hinweise auf Fristen hinsichtlich einer möglichen Beantragung von Arbeitslosengeld -. möglichst nicht in dem Jahr ALG 1 beziehen, indem die Abfindung fließt – Steuerbelastung sonst höher w/Progressionsvorbehalt des ALG – Alternative : das sogenannte Dispositionsjahr nutzen – ACHTUNG: wichtige Fristen bei der Beantragung zu beachten – zu frühes / oder zu spätes Beantragen kann schädlich sein. Bei richtiger Nutzung weitere steuerliche Vorteile zusätzlich zur 5-tel Regelung

4. Nützliche Hinweise auf Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld und Rente ab 63. Hinzuverdienst bei Rente mit 63 bisher nur 6300€ pro Jahr – in Corona Jahren (2020-2022) wurde diese Grenze vorübergehend angehoben auf ca. 46000€ - ob aufgrund Mangel an Arbeitskräften in Zukunft wieder auf 6300€ zurückgestuft wird – noch offen. Im Arbeitslosengeldbezug kann maximal 165 Euro pro Monat  ohne Anrechnung auf  Arbeitslosengeld hinzuverdient werden

Wie wichtig ist in dem Rahmen der langfristige Ausblick?
Bei ihrem Entscheidungsprozess brauchen betroffene Arbeitnehmer  einen Blick auf das Ganze, und dies über einen Zeitraum von 20 oder 30 Jahren. Insbesondere auf diese fünf Fragen bei der Beurteilung von Abfindungsangeboten:

1. Sind Informationen zu den betrieblichen Versorgungsansprüchen eingerechnet? Für das Gesamtbild: was habe ich aus der bav zusätzlich zur gesetzlichen Rente zu erwarten? Und lohnen eventuell Einmalzahlungen aus Abfindung in bav? Steuerlich am Anfang interessant – in der Auszahlungsphase gehen diese Vorteile wieder verloren. Reicht die realistisch erzielbare Rendite und anfängliche Steuervorteile aus, um diese Nachteile wieder auszugleichen?

2. Sind Gehalt und Rentenverlauf des Lebenspartners oder Partnerin hinzugezählt Planung für die Lebensgemeinschaft – nicht nur für die Einzelperson. Monatlich gewünschte bzw. erforderliche Liquidität sollte zu den Zielvorstellungen passen! Es geht um die Planung bis zur Rente und zusätzlich die hoffentlich lange Rentenphase (20-30 Jahre!)

3. Ist eine etwaige private Vorsorge im Gesamtbild berücksichtigt? eventuelle Mieteinahmen und Kapitalerträge runden die Gesamtversorgung ab. Ohne Berücksichtigung kein ausreichender Entscheidungsraum! Sind unter Berücksichtigung der privaten Vorsorge alle meine Zielvorstellungen, Planungen und Erfordernisse erfüllt? (Bsp. Reisen, Hobbys, etc.); Ziel ist ein umfassender Blick auf Liquidität und Vermögensentwicklung im letzten Lebensabschnitt. Sind die bisher genutzten Produkte ausreichend renditestark / schmälern hohe Kosten den Anlageerfolg (Finanzgutachten über bereits bestehende Verträge + Handlungsoptionen)

4. Welche kostengünstigen Anlagemöglichkeiten der Abfindung passen zu dem jeweiligen Risikoprofil? Viele Geldanlagen sind mit hohen Kosten belastet bzw. haben keine Chance die notwendigen Renditen zu erzielen. Wissenschaftlich erforschte Strategien mit ETF /Indexfonds sind klassischen aktiven Strategien langfristig überlegen. Wichtig ist eine individuelle, maßgeschneiderte Strategie, die die Risikotragfähigkeit des Klienten unter wissenschaftlichen Aspekten ermittelt und umsetzen hilft. Berücksichtigung von Vererbungswünschen berücksichtigt? Umsetzung eines individuellen Entnahmeplans (Konstruktion einer eigenen privaten Rente) sinnvoll?

5. Stehen noch Darlehensverbindlichkeiten im Raum und sollten diese nach der Zinswende vielleicht teilweise als erste abgegolten werden? Oder anderweitige Verpflichtungen, wie Unterstützung von Kindern oder Eltern?

Wie lauten Ihr Gesamtfazit und Ihr genereller Rat?
Die betroffenen Mitarbeiter eines Personalabbauprogramms mittels Abfindungen brauchen eine individuelle Planungssicherheit mit allen wesentlichen Parametern, um solch eine weitreichende Entscheidung treffen zu können. Es geht um den letzten, und in der Regel sehr langen Lebensabschnitt, der unter Umständen  ohne aktives Arbeitseinkommen bestritten sein will. Und diese Informationen sollten sie einholen. Auch beim Arbeitgeber.

Spielen hier auch die  Unternehmen mit?

Sie haben ein gesteigertes Interesse daran, bei Ihrem Personalabbauprogramm eine möglichst hohe Annahmequote zu erreichen, und das möglichst schnell und geräuscharm. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Personalabbaumaßnahmen immer kritisch besetzt. Für das Unternehmensimage kann es daher in der Außenwirkung sehr nützlich sein, wenn die ausscheidenden Mitarbeitenden als auch Sozialpartner und etwaige Betriebsräte den fairen Prozess zum Personalabbau wertschätzen.

Zur Person:
Gunnar Marschke ist Partner der Honorarfinanz AG. Als früherer leitender Angestellter einer Bank hat er persönlich Erfahrungen mit einem Abfindungsangebot seines Arbeitgebers gemacht. Er stellte fest, was im Vergleich mit externen Dienstleistern zur Umsetzung von Personalabbaumaßnahmen positiv war - und welche Informationen fehlten. Heute positioniert sich Marschke als Berater von Arbeitnehmern, die sich in einem vorzeitigen Auflösungsprozess des Arbeitsverhältnisses mit ihren Arbeitgebern befinden.