Von Prof. Christoph M. Schmidt*

Die Entscheidung schien so nah. Entweder hätte Premierministerin May ihren mit der Europäischen Union (EU) ausgehandelten "Deal" im britischen Unterhaus durchgesetzt - und die Aushandlung des Folgeabkommens innerhalb eines geordneten Brexit hätte beginnen können. Oder die Premierministerin wäre bei der Abstimmung gescheitert. Damit wäre es entweder zu einem ungeordneten Brexit ohne Austrittsabkommen gekommen oder es wäre möglicherweise der Weg frei gewesen, den Austritt insgesamt zu revidieren.

Nun, da die britische Regierung die Abstimmung über das Verhandlungsergebnis auf unbestimmte Zeit verschoben hat, wurde nur eines erreicht: noch mehr Unsicherheit. Das hat sich auch nach dem gestern Abend gescheiterten Misstrauensantrag gegen die Premierministerin nicht geändert. In der Situation liegt aber auch eine Chance: Die EU sollte jetzt durch geeignete Reformen für den Fall eines zweiten Referendums die Attraktivität eines EU-Verbleibs stärken.

Ein schwieriger Verhandlungsauftrag Mit der Überreichung der Scheidungspapiere an die EU hatte die britische Regierung im März 2017 die Umsetzung des Ergebnisses des Brexit-Referendums in Gang gesetzt. Es war von Anfang an ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Regularien der EU sehen für die Austrittsverhandlungen lediglich zwei Jahre vor. Üblicherweise benötigen derart komplexe internationale Verhandlungen ein Vielfaches. Von vornherein war zudem jedes Verhandlungsergebnis dazu verdammt, im Vereinigten Königreich auf großen innenpolitischen Widerstand zu stoßen.

Denn das Brexit-Votum reflektiert eine tief gespaltene Gesellschaft. Die junge, gut ausgebildete Generation in den urbanen Zentren des Landes hätte sich vermutlich ein anderes Ergebnis gewünscht als die weniger gut ausgebildete, ältere Generation in den vom industriellen Niedergang und harten Strukturwandel geprägten Regionen der Peripherie. Im Brexit-Votum vermischten sich die Ablehnung von Immigration, die Skepsis gegenüber dem empfundenen Regulierungswahn der EU und die Sehnsucht nach verlorener Größe des ehemaligen Weltreichs.

Nachdem sich in den restlichen Mitgliedstaaten der Pulverdampf der Empörung über diese Entscheidung gelegt hatte, verfolgte die EU eine balancierte und klare Verhandlungsstrategie. Einerseits vermied sie es, den scheidungswilligen Partner mit Vergeltungsmaßnahmen zu überziehen. Andererseits war sie von Anfang an darauf bedacht, das Verhandlungsergebnis nicht so großzügig zu gestalten, dass der Austritt auch auf andere EU-Mitglieder attraktiv wirken könnte. Zudem ließ sie keinen Zweifel daran, dem Vereinigten Königreich die Kosten der Scheidung in Rechnung zu stellen. Diese strenge Verhandlungslinie ließ somit kein Ergebnis zu, das auch nur annähernd die kühnen Versprechungen der Brexit-Befürworter erfüllen konnte.

Wenig Hoffnung auf ökonomische Einsicht

Allzu große Hoffnung sollte man nicht hegen, dass allein die Einsicht in die drohenden ökonomischen Konsequenzen eines ungeordneten Brexit doch noch zu einer Bestätigung des Abkommens durch das britische Parlament führt. Bereits im Vorfeld des Brexit-Referendums im Sommer 2016 waren die Warnungen der Ökonomen nahezu wirkungslos verpufft. Eine überwältigende Mehrheit der Studien kommt zu dem Ergebnis, dass der Brexit der britischen Bevölkerung schaden würde - wobei dabei in der Regel von einem geordneten Brexit ausgegangen wird.

Selbst unter dieser Annahme ist das Ausmaß der Effekte nur schwer abzuschätzen, da erst das konkrete Folgeabkommen darüber entscheiden wird, ob es zu einem harten oder weichen Brexit kommt. Die vorliegenden Studien orientieren sich deshalb an unterschiedlichen Szenarien. Unabhängig vom methodischen Ansatz reichen die Schätzergebnisse von leicht bis stark negativen Effekten für das Vereinigte Königreich. Für den Rest der EU werden typischerweise ebenfalls negative, wenngleich viel kleinere Effekte ermittelt. Wie groß die Effekte sind, hängt insbesondere von der Intensität der Handelsbeziehungen ab - Deutschland dürfte deshalb stärker betroffen sein als andere EU-Mitglieder, aber nicht so stark wie etwa Irland.

Langfristig dürfte ein Brexit neben den direkten ökonomischen Effekten aber noch bedeutsamere Auswirkungen auf die EU haben: Erstmals wird der Prozess der europäischen Integration zurückgedreht, und es tritt gleich einer der größten Mitgliedstaaten aus der EU aus, der bereits seit 1973 dabei gewesen ist. Das große Gewicht des Vereinigten Königreichs in der Außen- und Sicherheitspolitik wird der EU auf internationaler Ebene fehlen. Zudem fällt damit eine der stärksten marktorientierten Stimmen weg, was die Balance innerhalb der EU bedeutend verändert. Handlungsoptionen der restlichen EU

Der EuGH hat jüngst entschieden, dass das Vereinigte Königreich einseitig von der eingereichten Scheidung zurücktreten kann. Das sind gute Nachrichten, denn den Brexit zu verhindern, wäre nach wie vor für alle Beteiligten das Beste. Aber was kann die EU dafür tun? Es kann kaum sinnvoll sein, den Briten jetzt doch für den Fall des Verbleibs in der EU die erwünschten Zugeständnisse etwa bei der Migration zu machen. Das wäre nicht im langfristigen Interesse der EU. Die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes - freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital - müssen unangetastet bleiben, um die Konsistenz in den Beziehungen zu Drittstaaten wie der Schweiz oder Norwegen zu wahren und die Gefahr der Nachahmung durch andere EU-Mitgliedstaaten einzudämmen.

Sinnvoll wäre es hingegen, das Brexit-Votum aus dem Jahr 2016 als Weckruf für das eigene Tun zu verstehen. Die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU sollten sich die Frage stellen, wie sie den Eindruck verwischen können, sie folgten in ihrem Bestreben, eine "ever closer union" zu verwirklichen, einer Regulierungs- und Vereinheitlichungswut. Dazu sollten sie sich neu am Prinzip der Subsidiarität ausrichten. Das EU-Budget sollte auf Aufgaben mit europäischem Mehrwert ausgerichtet werden. Eine gemeinsame Klimapolitik, die gemeinsame Sicherung der Außengrenzen und die Vollendung des Binnenmarkts sind prominente Beispiele dafür. Wenn die EU diesen europäischen Mehrwert herausstellen kann, hätte sie ihren Beitrag dafür geleistet, dass bei einem möglichen zweiten Referendum der Austritt doch noch abgewendet werden könnte.

*Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum