Der Zins steht für den Wertabschlag, den Zukunftsgüter gegenüber Gegenwartsgütern erleiden. Er lässt sich aus dem menschlichen Handeln nicht wegdenken. Gäbe es keinen Zins, würde niemand sparen, also auf Konsum verzichten und investieren. Unternehmen würden aufhören zu existieren, und die Volkswirtschaft würde in eine primitive und ärmliche Subsistenz­wirtschaft zurückfallen. Ein Albtraum, eine apokalyptische Vorstellung: Ohne arbeitsteilige, auf einen positiven Zins angewiesene Volkswirtschaften wäre der Hungertod für viele der etwa 7,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt besiegelt. Da mag es also ein Trost sein, dass die Zentralbanken bislang "nur" ausgewählte Zinsen im Kreditmarkt auf und unter die Nulllinie zwängen.

Was die Zentralbanken derzeit mit ihrer sogenannten Null- und Negativzinspolitik praktizieren, ist, den Zins in Teilen des Kreditmarktes auf beziehungsweise unter die Nulllinie zu drücken. Das soll ausgewählte Schuldner - allen voran finanziell marode Staaten und Banken - über Wasser halten. Doch einen Zins gibt es weiterhin, und zwar in allen anderen Märkten, in denen ebenfalls Gegenwarts gegen Zukunftsgüter getauscht werden - wie etwa in den Märkten für Aktien, Häuser und Immobilien. Doch die Null- und Negativzinspolitik sorgt für eine Inflationierung der Aktien- und Immobilienpreise. Denn die künftigen Erträge dieser Vermögensbestände werden nunmehr mit einem immer geringeren Zinssatz abdiskontiert.

Das erhöht deren Barwerte und damit auch deren Marktpreise. Der Investor sollte sich darüber nicht zu früh freuen. Denn die künstlich niedrig gedrückten Zinsen richten Unheil an, beispielsweise im Unternehmenssektor. Firmen werden zu Fehlinvestitionen verlockt. Anfänglich sorgt das zwar für sprudelnde Gewinne und einen Konjunkturaufschwung ("Boom"). Doch Letzterer steht auf tönernen Füßen. Irgendwann kippt er, weil die Unternehmen bemerken, dass sich ihre Investitionspläne nicht wie erhofft rechnen. Dann wird aus dem Boom unweigerlich ein Abschwung ("Bust"). Wann das passiert, lässt sich nicht verlässlich vorhersagen.

Die großen Zentralbanken der Welt, unter Führung der Federal Reserve (Fed) setzen derzeit alles daran, einen erneuten Bust zu verhindern. Spätestens seit der Krise 2008/09 haben sie ein "Sicherheitsnetz" unter die Konjunkturen und Finanzmärkte gespannt: Sie haben den Finanzmarktinvestoren signalisiert, dass "im Notfall" die Zinsen noch weiter gesenkt und die Geldmengen noch weiter erhöht werden, um eine neuerliche Krise abzuwehren. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Konjunkturen und Vermögenspreise sich seit 2009 weltweit wieder erholt haben. Doch diese Politik - wird sie unbeirrt immer weitergeführt - ist im wahrsten Sinne des Wortes selbstzerstörerisch.

Die geldpolitisch manipulierten Zinsen bringen Sparen, Konsumieren und Investieren durcheinander und sorgen auf diese Weise unweigerlich für Krisen. Wer meint, so wie in den letzten zehn Jahren könnte es problemlos immer weitergehen, sitzt einem schweren ökonomischen Irrtum auf. Die These, künftig werde es auch ohne Zins oder vielleicht sogar mit einem Negativzins gehen, ist eine Irrlichterei.

Der Aktieninvestor sollte allerdings nicht das Handtuch werfen, zumal die "große Blase" durchaus erst noch viel größer werden kann. Aber er sollte fest im Blick behalten, dass in einem Umfeld extrem niedriger Zinsen nicht alle Unternehmen langfristig erfolgreich sein können und dass nicht wenige von ihnen scheitern werden, spätestens bei der Rückkehr zu normalen Zinsen. Die Aktienauswahl wird daher zu einem entscheidenden Faktor für den Investitionserfolg: Man muss in die "richtigen" Unternehmen investieren, in die, die auch schwierige Wirtschafts- und Finanzmarktsituationen überdauern können. Die richtigen Unternehmen aufzuspüren und sie nur dann zu kaufen, wenn sie nicht zu hoch bewertet sind, ist die zentrale Herausforderung für den umsichtigen Aktieninvestor für die kommenden Jahre.

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