Die Rally seit dem Tiefpunkt im März ist mehr als beeindruckend. Allerdings - um es gleich vorwegzunehmen - könnte ein Wendepunkt erreicht sein. Die wichtigen Indizes an der Weltleitbörse New York, der S & P 500 und der Nasdaq Composite, haben jeweils ihr 50-Prozent-Retracement-Level erreicht. Eine mächtige charttechnische Hürde, die wohl nicht so leicht zu überwinden sein wird.

Besonders interessant am Kursanstieg seit März ist der Umstand, dass die Rally von jenen Aktien angeführt wurde, die in den vorangegangenen Wochen die schlechteste Performance hatten: von Fluggesellschaften etwa und von Ölfirmen, von Banken und von Nebenwerten. Eine Art "Anti-Momentum-Rally" also oder, wie es der in den USA bekannte Charttechniker Andrew Thrasher überspitzt formulierte: ein "dash for trash", eine Rally der weggeworfenen Werte.

Dies lässt einen wichtigen Schluss zu: Ein Anstieg wie derzeit, der von "geringer Qualität" angeführt wird, ist in der Regel eine Short-Covering-Rally. Händler müssen in so einem Fall Aktien zurückkaufen, um ihre zuvor eingegangenen Short-Positionen zu decken. Nun könnte man sagen, egal, Rally ist Rally. Aus fundamentaler Sicht ist aber Skepsis angebracht, was die Nachhaltigkeit dieses jüngsten Anstiegs angeht.

Denn die Wirtschaft ist gegen die Wand gefahren. Ganz einfach. Die Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosengeld in den USA beispielsweise ist derart extrem in die Höhe geschossen wie nie zuvor in den zurückliegenden 50 Jahren, seit die Zahlen in dieser Form erfasst werden. Mit entsprechend negativer Wirkung auf die Wachstumsaussichten.

Um also Vertrauen in die Nachhaltigkeit der gerade erlebten Kursrally zu gewinnen, muss man als Anleger fest daran glauben, dass die Kombination von Fiskal- und Geldpolitik schnell etwas gegen die sich eintrübenden Wachstumsaussichten bewirken kann.

Dann wäre vielleicht auch die aktuelle Bewertung des Aktienmarkts gerechtfertigt. Die liegt in den USA jetzt bei einem KGV von etwa 17,3, was mehr ist als der Fünfjahresdurchschnitt von 16,7 und auch mehr als der Zehnjahresdurchschnitt von 15,0. Stand jetzt passt das aktuelle KGV so gar nicht zur Corona-Krise. Denn der "G" im KGV sinkt. Die Gewinnsaison für das erste Quartal steht vor der Tür. Und die Unternehmen werden in den kommenden Wochen zweifellos so viele schlechte Nachrichten wie möglich in ihr Zahlenwerk packen - und diese zu Recht oder zu Unrecht der Pandemie zuschreiben. Die KGVs der Aktiengesellschaften werden also steigen.

Nun könnte man sagen, gut, dann sind die Bad News raus, und danach kann es wieder aufwärtsgehen. Doch ist allen Ernstes damit zu rechnen, dass es eine V-förmige Erholung gibt und bis Jahresende alles gut ist? Können wir ohne wirksame Behandlung oder einen Impfstoff tatsächlich erwarten, dass das Universum einen Schalter umlegt und das Leben in naher Zukunft normal sein wird?

Bleiben Sie vorsichtig. Diese Rally fühlt sich an wie eine Rally gegen den Trend, nicht wie eine V-förmige Erholung von einem großen Tiefpunkt. In sehr kurzer Zeit hat sich die Stimmung von "Dies ist ein W-förmiger Boden, und wir werden die Tiefs testen" zu "Der Bulle ist zurück" verschoben. Eine Auswertung von Arbor Data Science zur Börsianerstimmung bei Twitter zeigt, dass der Konsens jetzt absolut bullish ist. Bearish ist fast keiner mehr. Irritierend. So etwas kann eigentlich nicht gut gehen.

Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com